Hallo!
Ich finde diese Diskussion auch sehr anregend. Tolle Argumente auf allen Seiten!
Ich gebe in den meisten Punkten Thaddeus und Tumbertor Recht. Lustige Analogie, übrigens.
Zitat von WCT:
\"Jegliche moralische Bewertung ist nur durch Konstruktion alternativer Szenarien/Handlungsalternativen möglich. \"
Wenn man vom \"Untergang\" des Weströmischen Reiches spricht, ist das sicherlich ein Werturteil, aber kein moralisches. \"Ermordung\" wäre eines...
Auch der Begriff \"Transformation\", der an sich wertneutral ist, kann in seiner Verwendung euphemistisch sein. Nämlich dann, wenn man ihn verwendet, um einer Wertung auszuweichen, die sich eigentlich aufdrängt, die man aber vermeiden möchte, weil man sich in Bezug auf aktuelle Entwicklungen unangenehm davon berührt fühlt.
Genau das unterstelle ich Teilen der Geschichtswissenschaft im Hinblick auf den Umgang mit dem Thema \"Verfall bzw. Verschwinden des Römischen Reiches\".
Bezogen auf andere Themen (z.B. Nationalismus, Kolonialismus usw.) schrecken Historiker ja nicht gerade vor Werturteilen, auch moralischer Art, zurück, sondern betrachten ein gesellschaftspädagogisches Einwirken auf die Öffentlichkeit auf Basis solcher Urteile über die Vergangenheit ja geradezu als ihre Hauptaufgabe und Daseinsberechtigung. Warum dann die Hemmungen in Bezug auf die Antike?
Zur Quellenlage habe ich den Eindruck, dass selbst wenn man lokale zeitliche Verschiebung, topoi-beladene Schriftquellen und eine dürftige Gesamtzahl an Quellen berücksichtigt, sich ein Bild ergibt, das im Wesentlichen schon den Ausdruck Untergang rechtfertigt. In England z.B. fand fast exakt das selbe statt, wie in einigen südamerikanischen spanischen Kolonien. Die einheimischen Männer wurden, laut genetischer Untersuchung, fast komplett von der Fortpflanzung abgeschnitten, die Eroberer eigneten sich Land und Frauen im Rahmen einer sehr gründlichen Landnahme an. In Gallien blieb die romanische Bevölkerung zahlenmäßig interessanterweise in der Übermacht, wie schon die sprachliche Entwicklung zeigt, aber obwohl nur die Kriegerkaste und Herrscher ausgetauscht wurden, folgt die gallo-römische Oberschicht im Laufe von 1-2 Generationen deren Lebenswandel und die Enkel griffelschwingender Grammatik-Enthusiasten werden analphabetische Schlagetots. Im gallischen und germanischen Grenzbereich werden römische Gebäude bis zum Verfall bewohnt, dann aufgegeben und direkt daneben Hütten gebaut. Aus großen Prachtgebäuden werden Metallklammern und Steinblöcke gebrochen, Straßennetz und Wasserversorgung verkommen... also um zwischen dem allgemeinen Lebensstandard bis ca. 400, und dann dem um ca. 500, zumindest in weiten Teilen Europas, keinen Niedergang zu erkennen, muss man sich schon etwas mühen.
@ severus: Auch was die erwähnte Transformation der Republik angeht, würde ich die Kontinuitäten nicht überbetonen. Nach hundert Jahren Bürgerkrieg hatte sich die alte republikanische Führungsschicht selbst ausgerottet und der vollkommen müde gekämpften Bevölkerung war die Alleinherrschaft lieber, als fortgesetztes Chaos. Augustus sehe ich eher als das Vorbild für Senator Palpatine bei Star Wars und weniger als Retter der Republik.
Eine sehr faszinierende Frage in Bezug auf unser Thema ist für mich noch etwas anderes:
Die total durchmilitarisierte römische Bevölkerung der späten Republik, die in der hellenistischen Welt als barbarische Krieger gefürchtet waren, sind einige hundert Jahre später zu einer wehrunfähigen oder wehrunwilligen Bevölkerung geworden, die hilflos der Machtübernahme kleiner, eingewanderter Gruppen ausgeliefert ist. Wie ist das möglich? 20.000 Goten oder Wandalen setzen sich als neue Führungsschicht auf Millionen von Römern... hat die \"Pax Romana\" des Augustus und die weitgehende Professionalisierung und Abtrennung des Militärs von der Zivilbevölkerung zu einer Pazifizierung geführt, die in diesem Falle verhängnisvoll war? Im Sinne einer Domestizierung zu hilflosen Steuerzahler-Untertanen?
Viele Grüße,
Yogsothoth