Oh, den Thread seh ich ja heute erst!
Also erstmal muss man sagen, dass die Geschichtsschreibung von den Forschern übernommen wird, denn die Publikationen ihrer Forschung sind eben jene Historiographie. Im Unterschied dazu steht die Geschichtsdidaktik und die mediale Rezeption. Hier hinken alle Zeitbereiche hinter der Forschung her, aber aus teilweise unterschiedlichen Gründen. Im Zentrum des Geschichtsunterrichtes steht die neuere und neueste Geschichte. Das schwächt die Position der Vormoderne, also der Mediävistik, Altertumskunde, der Altorientalistik und der Vor- und Frühgeschichte. Leider, leider ist man in Deutschland nie fächendeckend dazu übergegangen Geschichte als Verbundwissenschaft in der Schule zu begreifen. Sie existiert noch immer, in Schule und Ausbildung der Lehrer, neben den Sozialwissenschaften, der Politologie und der Geographie. Nur in wenigen Ländern gibt es das Fach \"Gesellschaftslehre\", dessen Alltag aber von Lehrer bestritten wird, die eines der obigen Fächer studiert haben. Es mangelt also an Universalgelehrten in den geisteswissenschaftlichen Fächern der Schulen.
Ein weiteres Problem des Faches Geschichte ist die Unsitte Geschichte chronologisch zu unterrichten. Das führt dazu, dass die fremdesten und entferntesten Gesellschaften, die der Antike, die nach dem Duktus des westlichen Selbstverständnisses aber unsere Wurzeln sind, als erstes vermittelt werden. Die Antike und das Mittelalter spielen also für das Nebenfach Geschichte kaum eine Rolle. Nur zwischen der 5. bis 7. Klasse (je nach Bundesland) unterrichten wir Schüler darin. Wenn sie noch nichts über Miteinander wissen, quälen wir sie mit Sklaventum, Vielgötterei, Kreuzfahrern und anderen Gemeinplätzen, die sie jeden Interesses berauben. Wer dann noch Latein lernen darf, wird die Antike für immer mit den Barbaren Caesars und dem Abl. Abs. verbinden. Die brühwarmen, emotional aufgeladenen Themen der jüngsten Vergangenheit diskutieren wir dann mit pubertierenden Rebellen, die sich gerade keine fünf Minuten konzentrieren können und deren sozio-psychologische Entwicklungsstufe ihnen gerade vorschreibt, gegen alle Älteren aufzubegehren. Da kann nichts hängenbleiben, wenn das Thema keine Distanz mitbringt.
Einige von denen gehen dann an die Unis und noch weniger studieren Geschichte. Von denen werden meistens die Lehrer, die sich für die Moderne interessieren. Viele, die letzten Endes im Lehramt landen, sind auch nicht gerade Aushängeschilder hinsichtlich Allgemeinbildung, Methodik oder Begeisterungsfähigkeit Dritter. Nieten gibt es bei den nicht-Lehramtsstudenten auch, aber das regelt der Markt. In Zeiten von Lehrerknappheit kommt fast jeder examierte Student durch das Referendariat zu einer Beamtung auf Lebenszeit. Da schließt sich der Kreis, denn Mittelmaß produziert mittelmäßiges.
In den Medien läuft\'s ähnlich. Um eine Doku im Fernsehen produzieren zu dürfe muss ich kein guter Historiker sein. Gefragt ist in entsprechender Position bei einer Produktionsfirma angestellte zu sein. Dazu haben Leute wie Guido Knopp Medienwissenschaften studiert, nicht Geschichte. Das Produktionsformat muss zu Zeit und Sender passen, der Inhalt ist beliebig. Dann kann man mit ein paar Kontakten in die Wissenschaft in einem Abwasch auch \"Hitlers Bratpfannen\" und \"Chlodwigs Frankenreich\" beackern. Solange man ein paar \"Experten\", \"Zeitzeugen\" und \"nachgestellte Szenen\" einbaut, ist alles gut.
So, genug gemotzt. Die Vermittlung von Wissenschaft in Schule und Medien, als vor allem im Fernsehen, ist natürlich extrem zeitabhängig. Meiner Meinung nach werden Fernsehproduktionen heute schlechter produziert. Viele Firmen begeben sich auf ein Niveau hinunter, dass berieselt. Es ist egal, wann man einschaltet, weil die Informationen trivial sind. Es gibt keine Komplexität, denn das wäre aufwändig zu vermitteln. Dafür sorgt vor allem der Vormarsch des Privatfernsehens und mittlerweile des Internets. Die Privaten schulden den Anlegern Rechenschaft, nicht den Zuschauern. Die zahlen ja nix für\'s Fernsehen. Man darf auch keinen vergraulen, denn wenn die Rate sinkt, zahlen die Drittmittelgeber nichts für Werbeblöcke. Die öffentlich-rechtlichen Anbieter geraten dadurch in Konkurrenzdruck, denn auch ihre Produktion muss zunehmend kostengünstig erfolgen. Außerdem will man up-to-date sein. Solche Dinge entwickeln eine Eigendynamik.
Die neueste Forschung kann auch kaum umgehend in der breiten Masse rezipiert werden. Dazu muss sie zunächst fachwissenschaftlich publiziert werden. Das dauert ein paar Jahre und muss dann eine Aufmerksamkeitswelle treffen. Was wissenschaftlich en vogue ist, muss nicht gesellschaftlich interessant sein. Beides zu treffen, ist extrem unwahrscheinlich. Für die 2000er Jahre müsste man z.B. über Integrationsprozesse, religiösen Fanatismus, Imperialismus und ökonomische Netze etwa ab 2000 bis 2003 geforscht haben. Aus meinem Zeitbereich fällt mir keine derartige Arbeit im großen Stil ein. Die Themenauswahl ist auch klein. In der Antike findet man das am ehesten bei den Sikarioten Palästinas, wobei der Teil mit der Ökonomie schwierig unterzubringen wird. Erst ab 9/11 sind diese Fragen massiv in die Öffentlichkeit gerückt und viele Wissenschaftler, z.T. sehr junge, arbeiten jetzt an solchen Themen; nicht nur in der Geschichtsforschung. Warum? Weil die Forschung seltener die Allgemeinheit beeinflusst, als das Weltgeschehen die Sicht auf vergangene Prozesse verändert.
Das gilt insbesondere für Lehrbücher. Wer sich Geschichtsbücher der letzten 100 Jahre anguckt, wird das schnell erkennen. Themenauswahl, didaktische Aufbereitung und Komplexität sind von Land, Schulform und Bildungsziel abhängig. Man muss nicht den Blick NS-Deutschlands auf Sparta aufgreifen, oder den Umgang der DDR mit Rom als Sklavenstaat. Es reicht, wenn wir uns anschauen, wie sehr die Generation der \"68er\" die Bücher beeinflusst hat: Skizzen, Comics, Diagramme. Das ist nicht der digitalen Drucktechnik alleine zu verdanken. Multisensorisches Lernen ist Teil des Unterrichts. Die postmodernen Lehrer sollen weniger kanonisch ausbilden, Unterricht muss freier sein, Schüler sollen zweifeln lernen, manche meinen, bis zum verzweifeln.
Das braucht immer Zeit, bis es in den Büchern umgestellt wird. Meine Lehrbücher waren noch voll von Französischer Revolution, Industrialisierung, Kaierreich, Weimar und Machtergreifung. Mit Vietnam und dem Fall der Mauer ging\'s dann zu Ende. Für die Schüler von 2012 ist der Mauerfall Steinzeit. In deren Büchern wird 9/11 \"Geschichte\" sein. Mal sehen, was die Kollegen dazu schreiben werden.