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Autor Thema: Megalomanie ein antikes Phänomen?  (Gelesen 2211 mal)

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Pappenheimer

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Megalomanie ein antikes Phänomen?
« am: 30. Juli 2019 - 12:13:25 »

Mir fällt immer wieder auf, dass offensichtlich selbst Historiker heute noch die Zahlenangaben der Antike für voll nehmen. Woher kommt das? Warum wird Dellbrück z.B. ignoriert? Gibt es Bücher, welche sich heute mit realen Kräftezahlen beschäftigen?

Ein Beispiel:
Bei der Schlacht bei Ecnomus sollen angeblich 680 Schiffe mit 290.000 Mann Besatzung aufeinander gestoßen sein.
Wer glaubt denn sowas?
Ich meine, wie soll die antike Logistik soviele Menschen versorgt haben?
Ein gutes Beispiel sind die Versorgungsschwierigkeiten, die noch in der frühen Neuzeit bei deutlich dichter besiedelten Landstrichen Heere von 30-40.000 Mann hatten. Wenn sie länger als eine Woche an einem Ort blieb, war die Gegend im Umkreis von einigen Kilometern leer gesogen.
Wieviele Brote muss man täglich backen, um sagen wir eine Mannschaft von 150.000 Menschen zu versorgen? Das entspricht noch heute einer kleineren Großstadt.

Das bahnbrechende an Dellbrücks Werk über die Kriegskunst ist auch m.E. nicht seine Betrachtungsweise der Taktik. Denn da ist vieles heute überholt. Das bahnbrechende ist, dass er nach ökonomischen und rationalen Maßstäben die Kriegsführung der Vergangenheit abklopft. Am stärksten ist er daher bei seiner Betrachtung der Feldzüge Alexanders, wenn er bspw. aus dem Schlachtverlauf von Issos analysiert, dass die Armee der Perser genau deswegen eine engere Stelle des Tals auswählte, weil sie eben garnicht so märchenhaft groß war. Gerade die Perser hatten ja gewiss genauso wie Alexander später laufend mit eher widerwilligen Satrapen zu kämpfen, die garnicht erst ihre Kontingente abschickten und wenn sie sie abschickten, konnten sie alleine schon wegen der Weite des Raumes nie und nimmer zum nötigen Zeitpunkt ankommen (und wie sollten sie sich ohne GPS etc. finden?). Am absurdesten sind ja die Zahlen, die man oft für Gaugamela findet. Wo die Perser auf einmal eine soooo riesige Armee gehabt haben sollen, obwohl Ägypten und Kleinasien ja bereits von Alexander erobert waren und aus diesen mithin reichsten Provinzen des Reiches scheinbar keine Truppen mehr Dareios zuströmten (jedenfalls ist in den Beschreibungen der Feldzüge nie davon die Rede - ich denke vielmehr, dass sich bis Gaugamela der Einfluss der Perser über diese Provinzen erledigt hatte).

Dankbarerweise liefern uns entgegen der Griechen die Römer doch oftmals glaubhaftere Zahlenangaben. Da kämpften gegen Hannibal am Trasimenischen See etwa 40.000 Mann. Bei Cannae sollen es doppelt soviele gewesen sein, aber das ist nicht ganz sicher, weil man einfach oftmals fix genausoviele Bundesgenossen wie Römer annimmt. Lindybeige hat z.B. mal betont, dass man eigentlich nicht wirklich weiß wie diese Bundesgenossen denn kämpften und organisiert waren.
Die Frage ist dann auch, ob man nicht spekulieren kann, dass wenn die Bundesgenossen in ihrer Anhänglichkeit zu Rom etwa wankend wurden, vielleicht nur schwache Äquivalente zu den römischen Legionen schickten. Die Legionen in der republikanischen Zeit umfassten ja zwischen 4.000 und 5.000 Mann, wobei das nur die Sollstärke war. Normalerweise wird mangels anderer Angaben einfach bei den Schätzungen der Heeresgrößen von Sollstärken ausgegangen.

Nur mal angenommen man hätte bei Cannae wirklich auf römischer Seite 16 Legionen aufbieten können, was selbst für Italien eine gewaltige Streitmacht war und sicher nur unter höchsten Anstrengungen A zusammen zu trommeln und B zu versorgen, wobei Letzteres, da man zuhause kämpfte sicherlich leichter war als beispielsweise in Spanien oder auf dem afrikanischen Festland (Zama z.B.), dann sind das immernoch nicht soviele wie die weit über 100.000 Mann Ruderer und Seesoldaten (wohl einfach aufs Schiff gesetzte Legionäre), die angeblich bei Ecnomus anwesend waren. Und dabei war im 2. Punischen Krieg obendrein die Macht Roms eher erheblich größer als im 1. Punischen Krieg, da dieser ja schon zu Gebietszugewinnen geführt hat.

Lange Rede kurzer Sinn: was kann man also als wahr annehmen?

Denn wenn ich mir ein Szenario zusammenbastel, dann versuche ich ja, was glaubhaftes abzubilden.
Etwa wenn ich die spanischen Bataillone nach 1743 als schwach abbilde oder mit hinein rechne, dass wenn es zu einem Überfall kam, auch die Einheiten zerstreut waren und wohl kaum mit voller Kampfstärke kämpfen konnten (es sind immer ein paar pinkeln oder besorgen sich ihr Frühstück oder haben ihre Muskete zum Reinigen auseinander genommen etc pp.).
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Decebalus

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #1 am: 30. Juli 2019 - 15:27:29 »

Ich stimme Dir ja komplett zu, aber:
1. Ist das nicht etwas eine Strohmann-Debatte. Wer behauptet denn heute noch die Zahlen würden stimmen?
2. Wargamer orientieren sich doch schon mal garnicht an den Zahlen, weil sie sowieso die Figuren nicht zusammen bekommen. Da wird doch regelmäßig "bathtubing" betrieben (so der Begriff, wenn man kleinere Einheiten für größere benutzt, also z.B. in WAB Kohorten als Legionen einsetzt).
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Wellington

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #2 am: 30. Juli 2019 - 16:10:15 »

  • Dellbrück wird nicht ignoriert, sondern genauso wie anderen Autoren aus dem 19. Jahrhundert mit Vorsicht genossen. Der wissentschaftliche Stand hat sich auch hier weiterentwickelt.
  • Das Zahlen in Bronzezeit, Antike, Mittelalter und noch in der Neuzeit unter Umständen aus propagandistischen Gründen aufgeblasen werden, ist wie ja Decebalus schon andeutete, doch allgemein anerkannt. Ich kenne nur wenige ernstzunehmende Artikel oder Bücher zu militärhistorischen Themen in denen sich der Autor nicht mit den angegebenen Zahlen und den relaistischen Zahlen auseinandersetzt.
  • Auf der anderen Seite unterschätze man nicht die logistischen Fähigkeiten mancher Kulturen in der Antike, die denen der Europäer im Mittelalter und der der frühen Neuzeit deutlich überlegen waren.
  • Ob die Römer in der Angabe von Truppenstärken verlässlicher waren als Griechen, kann ich nicht beurteilen, aber (ohne Quellen angeben zu können) hab ich aus Magazinen und der Literatur den Eindruck dass auch römische Autoren hier gelogen haben dass sich die Balken bogen.
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Pappenheimer

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #3 am: 30. Juli 2019 - 16:10:47 »

Ich stimme Dir ja komplett zu, aber:
1. Ist das nicht etwas eine Strohmann-Debatte. Wer behauptet denn heute noch die Zahlen würden stimmen?
2. Wargamer orientieren sich doch schon mal garnicht an den Zahlen, weil sie sowieso die Figuren nicht zusammen bekommen. Da wird doch regelmäßig "bathtubing" betrieben (so der Begriff, wenn man kleinere Einheiten für größere benutzt, also z.B. in WAB Kohorten als Legionen einsetzt).
1. Bei der einen Alexander-Biographie von Nicolas Hammond standen noch so fabelhafte Zahlen über Gaugamela und Issos drin. Hammond war auch einer dieser 0en-Wegstreicher.
Halt nicht 1.000.000 Perser sondern 100.000. Wie er auf die 100.000 kam, war mir auch schleierhaft.
Genauso gut hätten es doch dann auch 200.000 oder 250.000 sein können.

Egal ob 100.000 oder 120.000 - diese Truppenmassen ließen sich damals einfach nicht versorgen. Selbst einmal angenommen die Perser hätten kein Heer von Spezialisten gehabt, sondern alle Ethnien ihres Reiches versammelt, so wäre das Problem nach ein paar Tagen schon virulent geworden.
Hatten die Kühlschränke? Wo sollten die Rinderherden weiden, welche eine solche Armee mit Fleisch versorgt hätten?
Alexanders Heer von 30-40.000 Mann erforderte schon eine ausgeklügelte Logistik und litt offenbar immer wieder darunter, dass es keine Versorgung übers Meer erhielt. Das war immerhin damals eine recht gute Möglichkeit ein Heer zu erhalten. Aber dann bei Gaugamela - eine Versorgung über Land?  :o

2. Ja, ist mir bekannt.

Vielleicht hast Du Recht und ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht.  ;D
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Thomas Kluchert

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #4 am: 30. Juli 2019 - 17:09:29 »

Ein sehr interessantes Thema, denn das ist mit in der Vergangenheit in der Tat auch immer mal wieder aufgefallen. Mit den wargamingrelevanten Themen (Taktik, Ausrüstungen etc.) setzen sich meiner Erfahrung nach vor allem anglo-amerikanische Autoren auseinander (ich weiß gar nicht, ob es noch ernstzunehmende deutschsprachige Autoren zu diesen Themen gibt). Und gerade da gibt es auch noch viele, die meiner Einschätzung nach eher als Hobbyhistoriker zu bezeichnen sind. Kein Wunder also, dass Delbrück bzw. seine Methode bei denen nie richtig angekommen ist. Ich würde auch behaupten, dass die Forschung da schon mal weiter war, auch was die kritische Betrachtung von Schlachten und ihrem Ablauf anging (ich sag nur Schlacht bei Magnesia 190/189 v. Chr.).


Zitat
2. Wargamer orientieren sich doch schon mal garnicht an den Zahlen, weil sie sowieso die Figuren nicht zusammen bekommen.

Du hast natürlich Recht, dass sich Wargamer nicht 1:1 die angegebenen Zahlen in Figuren umsetzen. Aber natürlich orientieren sich Wargamer an den Zahlen, wenn es um Szenarien geht! Wenn da zum Beispiel 10 Bases Römer dann 30 Bases Gallier gegenüberstehen.
Und so gut wie alle Regelsysteme (DBA ausgenommen) richten sich danach aus, da werden Legionäre als die Elitekrieger der Antike ausgewiesen, klein in der Zahl, aber sehr stark. Und schon richten sich Wargamer nach den Zahlen der Historiker, sogar wenn sie kein Szenario spielen.
Die Frage ist also ziemlich wichtig, wie ich finde, denn sie beeinflusst erheblich wie wir spielen. Ginge man zum Beispiel davon aus, dass Römer durch ihre logistischen Fähigkeiten mindestens gleich viele, wenn nicht sogar mehr Soldaten auf dem Schlachtfeld konzentrieren konnten als ihre Gegner, müssten fast alle Armeelisten umgeschrieben werden. Denn dann würde z. B. das klassische Narrativ Klasse vs. Masse nicht mehr greifen.
 
Zitat
Dellbrück wird nicht ignoriert, sondern genauso wie anderen Autoren aus dem 19. Jahrhundert mit Vorsicht genossen. Der wissentschaftliche Stand hat sich auch hier weiterentwickelt.

Einzelne Aussagen von ihm sind sicher überholt, seine Methode aber scheint mir nach wie vor sehr nachvollziehbar. Hast du vielleicht konkrete Literaturhinweise um den aktuellen/ weiterentwickelten Stand in der Wissenschaft nachvollziehen zu können (ich hab da keinen Überblick, kenne tatsächlich nur den Delbrück)?
« Letzte Änderung: 30. Juli 2019 - 18:24:37 von Thomas Kluchert »
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Pappenheimer

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #5 am: 30. Juli 2019 - 17:41:09 »

  • Dellbrück wird nicht ignoriert, sondern genauso wie anderen Autoren aus dem 19. Jahrhundert mit Vorsicht genossen. Der wissentschaftliche Stand hat sich auch hier weiterentwickelt.
   
Delbrück ist aus dem 20. Jahrhundert.

Ich kenne eigentlich garkeine deutschen Übersichtswerke z.B. über die punischen Kriege. Von daher ist Dellbrück beinahe noch das "modernste", was wir haben.

In Deutschland ist die Militärgeschichte m.E. eher eine Art Sozialgeschichte geworden. Beschäftigte sie sich früher mit einer Art Vogelperspektive rein auf das strategische und taktische Geschehen, so ist sie jetzt stärker am Detail interessiert. Das sieht man schon, wenn bei der Einbindung in eine Regimentsgeschichte als neueste Quellen zu einem Schlachtverlauf ein Buch aus den 1870ern verwendet wird.
Eine Ausnahme scheint der 30-jährige Krieg zu sein, auch wenn da ebenfalls die Betrachtung auf die politische Dimension überwiegt.

Thomas Kluchert hat aber Recht, dass die englischsprachigen Werke auch eher aus der Feder von Hobbyhistorikern kommen - was an sich kein Problem darstellt. Besser als wenn garnix erscheint.

So und jetzt muss ich mir die Schlacht bei Magnesia angucken!  ;D[/list]
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steffen1988

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #6 am: 20. August 2019 - 08:05:17 »

Schon Antike (Römische) Autoren vermuteten - das Ptolemaios - als er den Alexanderfeldzug dokumentieren ließ, bei der Truppenstärke der Perser "schummelte" um Alexanders Siege imposanter wirken zu lassen.

Poliorketes

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Re: Megalomanie ein antikes Phänomen?
« Antwort #7 am: 01. September 2019 - 17:43:34 »

Deutsche Militärgeschichte im Sinne von Geschichte von Kampfhandlungen hat doch nach ‘45 außerhalb der MGFA kaum stattgefunden, und die hat ihren Schwerpunkt in der Moderne. Wenn da was populärwissenschaftliches aus deutschen Landen rauskommt, ist das die einundelfzigste Zusammenstellung der größten  Schlachten / Siege / Niederlagen, bei denen der Autor nur kompiliert und  nichts Neues liefert.

Aber das Megalomanie kein Phänomen der Antike ist zeigen doch z.B. zeitgenössische Feind-Zahlenangaben über indische Meuterer oder Mahdisten. Viel Feind, viel Ehr. Oder seht euch eine beliebige TV-Doku über die Völkerwanderung an, da wird immer noch von hunderttausenden geschwafelt, die durchs römische Reich zogen.
« Letzte Änderung: 01. September 2019 - 17:47:28 von Poliorketes »
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