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Autor Thema: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden  (Gelesen 1773 mal)

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steffen1988

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Heute gefunden - Leider habe ich hier im Forum noch keinen Artikel dazu gesehen.

In Kalkriese wurde erstmals eine fast volständige Lorica Segmentata gefunden. Das Objekt wurde bereits 2018 geborgen, aber nach langer untersuchung erst später festgestellt, was es ist. Im September dann die Bekanntgabe.

Nach ersten Erkenntnisen ist der Rüstungstyp anders Konstuiert als bisher angenommen.

https://www.ndr.de/kultur/Museum-Varusschlacht-praesentiert-aussergewoehnlichen-Fund,kalkriese460.html
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Roemischer-Schienenpanzer-in-Kalkriese-gefunden,kalkriese448.html
https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2020/11/tod-eines-legionaers-archaeologen-loesen-raetsel-des-aeltesten
« Letzte Änderung: 22. November 2020 - 14:08:29 von steffen1988 »
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Riothamus

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #1 am: 22. November 2020 - 14:46:34 »

Auch der Kalkrieser Museumsblog beschäftigt sich zur Zeit damit:
https://www.kalkriese-varusschlacht.de/museum/museumsblog/

Die Lorica Segmentata muss in jener Zeit entwickelt worden sein. Vor den Kalkrieser Funden galt ja die Regierungszeit des Tiberius (und noch früher die des Claudius) als frühester Zeitpunkt für diese Entwicklung. Daher sind Abweichungen im Aufbau durchaus zu erwarten. Auf mich macht es den Eindruck, dass der Aufbau im oberen Bereich noch stärker Kettenhemden nachempfunden ist. Sensationeller ist da schon die Vollständigkeit. Es sollen ja sogar Reste des Leders vorhanden sein.

(Generell wären für mich neue Erkenntnisse zu den Befestigungsanlagen. Wenn diese tatsächlich als letztes Lager gelten müssen, ließe sich die Position des Scheiterhaufens mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Diesen innerhalb des Lagers aufzufinden, wäre wohl -mit etwas Glück- die einzige Möglichkeit andere Ereignisse als die Varusschlacht endgültig auszuschließen, die gezielt angegangen werden könnte. Und ja, mir ist bekannt, dass Archäologen für gewöhnlich anders arbeiten. Aber es wäre einfach eine tolle Gelegenheit, aus der Archäologie Erkenntnisse über die Beschreibung des Schlachtfelds durch Tacitus zu gewinnen. Dieser beschreibt das Nebeneinander eines üblichen römischen Lagers und eines improvisierten mit verfallenen Wällen, in dem die Reste Zuflucht fanden. Dabei bleibt er so vage, dass mehrere Interpretationen möglich sind. Seine Denkweise nachzuvollziehen wäre um so wertvoller, da er an vielen Stellen wage bleibt. Und wieder ja, ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, einen entsprechenden Befund vorzufinden.)
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Riothamus

steffen1988

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #2 am: 22. November 2020 - 15:21:41 »

Würde mich freuen, wenn man doch irgendwo eine Kopie von Pliniues "Bello Germaniae" finde könnte. Das könnte vielleicht mehr Aufschluss geben, zumal Plinius der Ältere vor Tacitus lebte.

Interessant ist das vermutlich bei frühesten Modellen der Segmentata keine Schulterschütze zur Rüstugn gehörten. Ob wohl die Verstärkungen, wie man sie zu diesen Zeitpunkt noch bei Kettenhemden und Schuppenpanzern (Name vergessen) kennt zur Anwendung kamen - Das Mischen von Rüstungen war ja jetzt nicht so ungewöhnlich.

Ich vermute mal, die seltenen Funde von Lorica Segmentata ist darauf zurückzuführen, das diese Rüstungen häufig wieder eingesammelt wurden oder nach "Ablauf der Nutzungsdauer" anderweitig verwertet wurden.

Darkfire

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #3 am: 22. November 2020 - 21:24:26 »

 Lorica Squamata Schuppenpanzer

Hab den Artikel schon vor einiger Zeit gelesen, da wird wieder eine Lücke in der römischen Militärgeschchite geschlossen. Nur gut, das sie nicht von einem Hinkelstein zerquetscht wurde  8)
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steffen1988

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #4 am: 22. November 2020 - 21:34:44 »

Lorica Squamata Schuppenpanzer

Und Lorica Plumbata!

Sorry, hatte mich auf die Verstärkte Panzerung, die Rüstungen bis ins frühe 1.Jahrhundert häufig auf den Schultern hatten, bezogen. Da hab ich die Bezeichnung vergessen.

Riothamus

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #5 am: 23. November 2020 - 03:47:32 »

Lorica plumata, zu deutsch 'gefederter Harnisch', plumbata hieße 'verbleit, mit Blei'. Dabei meinen plumae Daunen oder Flaum. Für alle Nicht-Lateiner: Hamata heißt 'mit (Angel)Haken versehen, hakenförmig, ringelförmig, mit Ringeln versehen', squamata 'geschuppt' und segmentata eigentlich 'mit Gold / Purpur besetzt', doch wurde zum Zeitpunkt der Benennung die Nebenbedeutung 'in Abschnitten' gesehen. Denn diese Bezeichnungen stammen aus der Frühen Neuzeit, als man die erhaltenen Bildwerke beschreiben wollte.

Größere Teile von Rüstungen werden insgesamt sehr selten gefunden. Das am Harzhorn gefundene Kettenhemd war z.B. schon ganz allein für sich eine Meldung wert. Und Teile von Schienenrüstungen wurden in Kalkriese ja schon zuvor gefunden. Es ist ja ganz einfach so, dass ein ganzer Harnisch sehr selten übersehen wird. Einzelteile werden häufiger gefunden.

Die Ausrüstung musste in der frühen Kaiserzeit zum überwiegenden Teil von den Legionären gekauft werden, gehörte ihnen. Wer nicht genug Geld hatte, dem wurde der Preis in Abschlägen vom Sold abgezogen. Was dann später damit geschah, ob der entlassene Soldat sie mitnahm oder zu Geld machte, blieb ihm überlassen. Bei Militärgürteln und Dolchen als Statussymbol lag nahe, dass er sie mitnahm, bei schwereren Stücken eher der Verkauf. Es ist nachgewiesen, dass Helme über 200 Jahre lang genutzt und nach der Mode umgearbeitet wurden. Aufkäufer waren nicht nur Rekruten - die Ausbildung fand sowieso an anderen Orten in eigenen Einheiten statt -, sondern eher Militärschmiede und Händler.

Einige Sachen waren auch Eigentum der Einheiten, bzw Untereinheiten. So hatte ein Contubernium, eine Zeltgemeinschaft, eigenes Kochgeschirr. Verbrauchsgüter wie Pfeile und Pila wurden von der Legion gestellt. Auch die Beschaffung konnte der Legionär selbst in die Hand nehmen, solange er sich an die entsprechenden Richtlinien hielt. Allerdings war die Beschaffung durch den Kommandeur in größeren Mengen natürlich günstiger, auch wenn der dabei natürlich selbst einen Gewinn machte.

Dass die Ausrüstung Staatseigentum war, ist mittlerweile ein gnadenlos veralteter Forschungsstand. Und das ist sehr höflich ausgedrückt. Dennoch hält sich der Mythos vom Staatseigentum in der Öffentlichkeit genauso hartnäckig wie der Blödsinn über angebliche Lederrüstungen der Legionäre.

Was des Plinius Werk über die Germanenkriege angeht, dürfte es wohl verloren bleiben. Die einzige nennenswerte Bibliothek, zu der es (angeblich) noch keinen Zugang durch westliche Wissenschaftler gab und die zumindest in einem Kulturkreis liegt, der Zugang zu antiken Schriften hatte, liegt im Jemen. Doch soll es sich nur um religiöse Schriften handeln. Zudem gibt es Gerüchte, dass viele der Schriften heimlich verkauft wurden oder die Bestände der Bibliothek mittlerweile ganz oder teilweise zerstört sind. Selbst wenn nicht, dürfte die Wahrscheinlichkeit gering sein, dass dort noch anderes als religiöse Literatur zu finden ist. Denn daraus begründete sich eben die Zulassungsbeschränkung. Heute werden eher Sicherheitsbedenken genannt. Es wird also vielleicht Informationen zum Bestand geben, wenn dort wieder Frieden einkehrt.

Bliebe also nur der Wüstensand. Doch sind in Ägypten eher griechische Schriften zu finden. Und die Legenden, dass der Großteil der Bände des Museions von Alexandria an einen geheimen Ort gebracht wurden, können in der Entstehung beobachtet werden. Geflohene Gelehrte hatte einige Bände und Teile ihrer eigenen Bibliotheken retten können. Das wurde im Laufe der Zeit aufgebauscht, die Orte, die die Geschichtenerzähler nennen, liegen in der Regel in den heißesten Gebieten der Sahara, die in früheren Zeiten als unzugänglich galten. Wie in "Hier gibt es Drachen." also. Wer an eine geheime Bibliothek dort glaubt, glaubt auch an Chem-Trails. Andere abenteuerliche Theorien sind ähnlich unrealistisch. So wird aus der Entsorgung von Büchern auf Abfallhaufen in der Wüste eine Rettungsaktion gemacht. Natürlich in einem militärischen Sperrgebiet. Wohlgemerkt: Erst kam das Sperrgebiet, dann die Theorie aufgrund einer Bemerkung ohne jede Ortsangabe. Da lohnt sich nicht mal nachzuprüfen, ob die fragliche Quelle überhaupt existiert.

Dann wissen wir auch nicht, was Plinius beschreibt. Er kann alles bis einschließlich der Feldzüge unter Tiberius und Claudius nur kursorisch behandelt haben und sich auf seine Zeit beschränkt haben. Selbst das wäre natürlich schon wertvoll, da er der einzige ernsthafte Forscher war, der -aufgrund seines Militärdienstes- große Teile auch des nicht römischen Germaniens aus eigener Anschauung kannte und darüber geschrieben hat. Doch war die Geschichtsschreibung auch eine Kunstform, die abseits der Realität ihren eigenen Gesetzen gehorchte. Zudem handelte es sich nur um 4 Schriftrollen - meist ungenau und für heutige Leser vielversprechend als 'Bücher' übersetzt. Der Umfang antiker Schriftrollen entspricht aber eher heutigen Kapiteln. 'Vier Kapitel über die germanischen Kriege' klingt dann auch schon nicht mehr so vielversprechend. Wir wissen nicht, ob eines jener Kapitel / Bücher im heutigen Druckbild eines Taschenbuchs wie bei Cäsar eher 20 Seiten umfasste oder wie bei Tacitus eher 80. Des Plinius Naturgeschichte lässt eine Fülle von Informationen erhoffen, doch wird er ein Geschichtswerk als eine andere Literaturgattung wahrscheinlich auch anders angelegt haben. (Dazu gab es in den Schulen damals Stilübungen.)

Daher sehe ich es als erfolgversprechender an, nach Brandspuren eines nur teilweise abgebrannten Scheiterhaufens zu suchen, als nach dem Werk des Plinius. Denn wir wissen zumindest, dass, wenn es dort gebrannt hat, die Spuren immer noch zu finden sind. Bisher ist nur ein wichtiges bis dahin unbekanntes Werk der klassischen griechisch-römischen Antike halbwegs vollständig im Wüstensand gefunden worden: 'Der Staat der Athener' von Aristoteles (genauer: 1889 in einem Museum in London identifiziert). Dann große Teile einiger Komödien des Menander. Aus den Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum stammen einige weitere, philosophische Schriften. Also ja, träumen dürfen wir davon, aber es gibt sehr sehr viele Abers.
« Letzte Änderung: 23. November 2020 - 03:53:00 von Riothamus »
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Riothamus

steffen1988

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #6 am: 23. November 2020 - 08:58:36 »

Ein hoch auf das Christentum und seine Bildungs- & Wissensfeindlichkeit!

Kurze Korrektur;
Seit den Marianischen Reformen (die ja auch nicht so Linear waren, wie manche glauben) war es Standard das die Rüstung gestellt wird und der Soldat die Ausrüstung zu gleichen Teilen Monatlich abzubezahlen hatte bzw das von seinem Sold abgezogen wurde, dann aber auch sein Eigentum wurde. Freiwillig konnte man (bei entsprechendem Stand und Finanzen) sich auch selbst die Ausrüstung beschaffen oder vererbtes mitbringen.

Sowas ähnliches wie Staatseigentum von Rüstungen gab es wohl höchstens in der Zeit ab Diocletian, als Rüstungsproduktion über die Fabricae Staatsmonopol war, solange zumindest bis die Rüstung dann an den neuen Eigentümer abgegeben wurde, natürlich wie bisher gegen einen kleien Obulus versteht sich...

Riothamus

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #7 am: 23. November 2020 - 13:48:33 »

Hä? Ich habe doch ausdrücklich geschrieben, dass ihre Ausrüstung überwiegend den Soldaten gehörte.

Na ja, die Bücherverbrenner kann man genauso wenig mit 'den Christen' gleichsetzen wie 'die Islamisten' mit 'den Moslems'. Ich erinnere da nur mal an Hieronymus, der in der alexandrinischen Gelehrtentradition stand, die Bibel übersetzte und als Heiliger und Kirchenvater, sogar als einer der vier großen Kirchenväter, gilt. Die Bildungsfeindlichkeit der Spätantike war auch keine Besonderheit von Christengruppen, sondern eher so etwas wie Mainstream. Ähnlich wie heute wurden vorwiegend halbgare Zusammenfassungen gelesen, Vorurteile kolportiert und die Weltsicht der jeweiligen Ideologie angepasst. Neuplatoniker und orthodoxes Christentum gehörten zu den seriöseren Ideologien.
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Riothamus

khr

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #8 am: 23. November 2020 - 16:01:48 »

Sehr interessant.

Ich hatte mich immer schon gefragt, aus welchen Vorformen die imperiale Lorica Segmentata entstanden sein mag. Sie ist ja doch ein recht weitentwickelte Panzer und so etwas entsteht nicht ohne weiteres aus dem Nichts.
Da ist es gut, dass man auch mal eine frühe Form gefunden hat.
Viele Grüße
Karl Heinz
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flytime

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #9 am: 25. November 2020 - 19:40:46 »

Danke für den Hinweiß, das wäre mir komplett entgangen! :)
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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #10 am: 29. November 2020 - 18:40:21 »

Wenn man Kalkriese als Ort der Varusschlacht akzeptiert, alles schön und gut. Wenn man allerdings diesen Schlachtort mit den Feldzügen des Germanicus in Verbindung bringt, dann sind wir ja wieder in der Regierungszeit des Tiberius.
Für mich persönlich ist der Beweis für Kalkriese noch nicht zu 100% erbracht. Aber das sehen Viele anders; I know.
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http://www.thrifles.blogspot.com/

 http://www.dminis.com/thrifles/galleries/

\" ... Artillerieeinheiten der wichtigsten Nationen (Preußen, Österreich, Russland, Großbritannien ...) sind \"gefärbt\". Das Holz der Kanonen ist bei den Preußen z.B. blau, weil das die Farbe der Nation im Spiel ist (grün für Russland usw.). Das alles sieht scheiße und spielzeugmäßig aus...\"
Zitat aus einer Besprechung von Napoleon Total War

steffen1988

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #11 am: 30. November 2020 - 22:27:57 »

Wenn man Kalkriese als Ort der Varusschlacht akzeptiert, alles schön und gut. Wenn man allerdings diesen Schlachtort mit den Feldzügen des Germanicus in Verbindung bringt, dann sind wir ja wieder in der Regierungszeit des Tiberius.
Für mich persönlich ist der Beweis für Kalkriese noch nicht zu 100% erbracht. Aber das sehen Viele anders; I know.

Kleines Detail zum Fund - Bisher konnte die gefundene Rüstung noch nicht datiert werden.

Riothamus

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Re: (Fast) Vollständige Lorica Segmentata in Kalkriese gefunden
« Antwort #12 am: 01. Dezember 2020 - 01:08:40 »

Das ist so nicht ganz korrekt. Da sie anscheinend zu in Kalkriese gefundenen Fragmenten passt, ist sie -auch unabhängig vom Fundort- auf die Zeit jenes Ereignisses zu datieren.

Und auch wenn gestritten wird, ob es sich um den Ort der Varusschlacht (9 n. Chr.) oder ein Ereignis der Germanicus-Feldzüge (14-16 n. Chr.) handelt -aufgrund der Funde sind frühere oder spätere Ereignisse auszuschließen -, gibt uns das eine Zeitspanne von 7 Jahren. Und das ist für den Zeitpunkt, an dem ein Fund in den Boden kam, schon sehr genau und in jedem Fall früher, als es vor ein paar Jahrzehnten erwartet worden wäre.

Für beide Zuordnungen des Schlachtfelds gibt es gewisse Probleme. Das größte für die Verbindung mit einem entscheidenden Punkt der Varusschlacht ist etwa, dass Germanicus das Schlachtfeld besucht hat und daher auch Funde seines für die Zeit riesigen Heeres hätten gemacht werden müssen. Mitten in feindlichem Gebiet müsste in unmittelbarer Nähe ein Lager zu finden sein - und die Spuren eines weiteren Gefechts, da Arminius einen Teil der Truppen zu einem Angriff provozierte, als er sich auf dem Schlachtfeld befand. Umgekehrt würde eine spätere Münze das Schlachtfeld nicht auf Germanicus datieren, weil er ja dort war und das Schlachtfeld auf einer natürlichen Straße liegt, die viele Händler haben passieren müssen. (Solche Münzfunde sind im Inneren Germaniens auch von andere Engpässen bekannt, die die Handelswege an genau diese Stellen banden.)

Kalkriese liegt am Rande des Gebiets, dass für die Schlacht in Betracht kommt, wenn man die Angaben bei Tacitus ernst nimmt. Das war bis vor einigen Jahren problematisch, weil die Archäologen behaupteten einen Überfall, der innerhalb kurzer Zeit zur Vernichtung der römischen Truppen geführt habe, gefunden zu haben, obwohl die Gegenbeweise offensichtlich waren - dazu später mehr. Denn dann wäre der Weg für Germanicus weit und nicht nah gewesen. (Tacitus: 'haud procul' 'kaum weit, nah') Nach Textanalysen verwendet er den fraglichen Begriff bei aktuell geschilderten Ereignissen höchstens für sechs Wegstunden. Wenn wir bedenken, dass die Schlacht 3 Tage dauerte und die Römer während der Zeit sogar einen Nachtmarsch einlegten, um sichereres Gelände zu erreichen, dann kann kann Germanicus von dem Gebiet der äußersten Brukterer aus, den Beginn des Schlachtfelds erreicht haben und erst später den Ort der endgültigen Katastrophe. Hier darf man natürlich keine fehlerhaften Karten des 19. Jahrhunderts heranziehen, sondern Karten aufgrund antiker Angaben und moderner Archäologie. Die äußersten Brukterer (für Römer, genauer für Tacitus, also vom Rhein aus gesehen, wie wir aus den Analysen der Germanica wissen und nicht von der Donau aus) lebten dort, wo Lippe und Ems parallel fließen. Dies wird durch eine andere Stelle bestätigt: Germanicus befindet sich in einem Lager an der Lippe und hört, dass sowohl der Altar für seinen Onkel Drusus als auch der von ihm auf dem Varus-Schlachtfeld errichtete Grabhügel zerstört worden sind und entscheidet sich trotz der Nähe dagegen, sich darum zu kümmern.

Es gab Vorwürfe gegen Germanicus, dass er sich als Augur nicht mit Bestattungen hätte befassen dürfen. Er ist nun der Held des Tacitus und dieser nimmt ihn in Schutz, weshalb gesagt wird, er habe mit der Nähe übertrieben. Doch hier müssen wir uns in Tacitus versetzen, dessen Mogeleien in der Regel viel eleganter sind und der denn auch den moralischen Vorwurf, Germanicus hätte gegen die altrömische Tugend der religio verstoßen, damit konterte, dass er dabei mehrere andere altrömische Tugenden befolgte: Varus war ein Verwandter des Herrscherhauses und es gehörte daher zur pietas, ihn und die Mitbürger nicht unbestattet zu lassen. Dann war auch die virtus erfüllt. Germanicus ergriff mannhaft die Gelegenheit und erfüllte seine Pflicht trotz gewisser Gefahren. Wenn wir also einfach unterstellen, dass Tacitus mit dem 'haud procul' nur ein klein wenig übertrieb und sich auf den Beginn der Schlacht bezog, würde das passen, da sein Argument ja die naheliegende Gelegenheit betont und er hier nicht einfach die Unwahrheit gesagt haben kann. Die sog. senatorische Geschichtsschreibung, der Tacitus zuzurechnen ist, hat es zwar zur Kunst erhoben, die Geschichte im jeweils bevorzugten Licht erscheinen zu lassen, war dabei aber lange nicht so skrupellos wie ein Donald Trump. (Varus wurde nach heutigem Verständnis erst später die Schuld für die Niederlage zugeschrieben, nachdem seine Nachkommen bei Hochverratsprozessen verurteilt wurden.)

Dann schilderte Tacitus das Schlachtfeld: 2 Befestigungen, die eine ordentlich errichtet, die andere eher improvisiert und 'medio campo' - 'mitten auf dem Feld' die Gefallenen. Er bleibt dabei so unklar, dass nicht klar ist, ob die zweite Befestigung innerhalb der ersten lag, daneben oder mit kurzem Abstand. Und 'campus' kann auch einfach Schlachtfeld bedeuten. Römische Befestigungen schloss man aber bei Kalkriese aus.

Wer also von einer zeitlich kurzen Katastrophe bei Kalkriese spricht, hat ein großes Problem mit Tacitus und auch mit Dio Cassius, der die drei Tage der Schlacht schildert. Dio ist nun mit wesentlich mehr Vorsicht zu genießen als Tacitus, da ihm oft eine schöne Schilderung über die Wahrheit geht, aber auch er hat dabei Grenzen: Wir können ihm den groben Ablauf entnehmen, während wir bei den Details sehr vorsichtig sein müssen. Das ging soweit, dass einige die Geschichtsschreibung, da wo sie ihnen nicht in den Kram passte einfach ohne weiteres zu Fantasy erklärten. Wohlgemerkt, wir sprechen vom 21. und nicht vom frühen 19. Jahrhundert. Auch wissenschaftliche Standards und die Logik wurden nicht mehr beachtet, indem "Wir wissen ja, dass es der Ort der Varusschlacht ist." zum Ausgangspunkt der Argumentation gemacht wurde und Funde, die schwerer zu erklären waren einfach vollkommen anders als üblich erklärt wurden, obwohl Besonderheiten innerhalb des alten Systems gut erklärbar waren.

Die Erklärung für den Befund bei Kalkriese passte also hinten und vorne nicht zu den Schriftquellen -ob man will oder nicht, war es danach nicht das geschilderte Ereignis. Aber diese Erklärung passte auch nicht zum Befund und den Erkenntnissen der Archäologie: Der Wall, den die Germanen angeblich -wegen seiner unregelmäßigen und damit unrömischen Struktur- errichtet haben, war nicht gegen Norden, sondern gegen Süden errichtet. Dann gibt es Hinweise auf verbundene Wunden, die einfachen nicht zur Überfalltheorie passen wollen. Wohlgemerkt: Die Erklärung besagt, dass die Germanen, die das Anlegen von Wällen in römischen Diensten gelernt haben sollen, sollen es dann nicht hinbekommen haben. Das ist nichts weniger als eine rassistische Behauptung, wenn es wirklich ernst gemeint ist. Und schließlich wurden für die Erklärung Bögen als germanische Kriegswaffen erfunden, die alle Handbücher und Monografien ausschließen. Hier werden dann germanische Hilfstruppen, die mit Bögen ausgerüstet waren, erfunden. Die gab es aber nicht. Es handelt sich um eine unzulässige Hilfshypothese.

Klar, solcher Unsinn bringt nicht gerade Vertrauen hervor. Aber dann hat man das gefunden, wonach man meiner Ansicht nach bei Kalkriese schon länger hätte suchen müssen: Eindeutig römische Wälle. Es scheint nun so zu sein, dass der unregelmäßige Wall ihre Südseite bildet. Also ordentliche und improvisierte Befestigungen wie bei Tacitus. Ein Problem weniger. Und alles römisch. Noch ein Problem weniger. Wer Cäsar gelesen hat, weiß auch, wie die Befestigung an der Südseite entstand. Bei Dyrrhachium und in Nordafrika, improvisieren seine Legionen während des Kampfes mit überlegenen Truppen Befestigungen, um überhaupt eine Chance zu haben. Das kann begreiflicherweise kaum je so regelmäßig wie normal geschehen sein. Noch ein Problem gestrichen. Und wer nicht von einem unerwarteten Überfall dort ausgeht, für den kann die Schlacht auch woanders begonnen haben und germanische Kriegsbögen braucht man nicht. (Es wurden im Germanicum an einheimischen Bögen nur Jagdbögen gefunden, lediglich ein geopfertes Exemplar unklarer Herkunft wird als Kriegsbogen angesprochen.) Doch Vorsicht: Auch zu den neu aufgefundenen Befestigungen ist noch nicht alles klar.

Die großen Probleme schwinden also. Und die positiven Argumente nehmen zu, weil einfach keine jüngeren Münzen gefunden werden.

Was ist nun mit Germanicus? Wie ließen sich seine Hinterlassenschaften außer durch Münzen unterscheiden? Das dürfte schwierig werden, da sich in den 6 Jahren naturgemäß kaum etwas veränderte, dass wir so genau datieren können. Ein Marschlager entsprechender Größe in der Umgebung wäre natürlich hilfreich und würde dann auch die Caecina-Schlacht endgültig ausschließen.

Und was kann überhaupt an weiteren positiven Hinweisen auf Varus gefunden werden, wenn wir realistisch bleiben? Es wird von einem Scheiterhaufen berichtet, auf dem die Römer noch versuchten, Varus zu verbrennen. Und Asche ist archäologisch normalerweise nachweisbar, wenn auch die Zuordnung schwierig sein kann.

Auch ein weiteres Rätsel kann nach dem Befund eventuell erklärbar werden. Florus behauptet, dass die Germanen das Lager überfielen, als Varus Gericht hielt. Er kann sich das aus Andeutungen in früheren Quellen irgendwie falsch zusammengereimt haben, wie längst herausgearbeitet ist. Andererseits kann -bei der neuen Interpretation der Befunde- auch Varus tatsächlich noch versucht haben, Verräter oder Legionäre, die aufgeben wollten, zu richten, als die Verteidigung sinnlos wurde. Todesurteile auf dem Schlachtfeld werden in der römischen Geschichte tatsächlich ein paar Mal erwähnt. Aber das ist Spekulation, weil Florus davon irgendwie hätte erfahren müssen und wir nicht wissen, woher er das gehabt haben könnte.

Damit wird es immer wahrscheinlicher, dass es sich bei Kalkriese um den Ort der Varusschlacht handelt. Aber ja, endgültige Beweise sind, wie bei aller Naturwissenschaft schwierig zu finden. Weil es sich um ein aktuelles Ereignis handelte ist es möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Denn eine entzifferbare Grabinschrift bei einem zerstörten tumulus (Grabhügel, wahrscheinlich als kleinerer, auch symbolisch gemeinter Grabhügel zu verstehen) zu finden oder ähnliches, dürfte eine vergebliche Hoffnung sein.

Das Problem, dass der Germanicus-Horizont noch nicht abgrenzbar ist, wird sich dummerweise am Ehesten auf dem Varusschlachtfeld lösen lassen. Dies wäre dann auch wohl die einzige Möglichkeit, jenes Schlachtfeld zu 100% zu identifizieren.

Im Gegensatz zu anderen betrachte ich aber ein Ereignis aus der Zeit der Germanicus-Feldzüge für Kalkriese als möglich, wenn es auch immer unwahrscheinlicher wird. Tacitus könnte z.B. eine für seinen Helden peinliche Niederlage übergangen oder für uns unverständlich angedeutet -was eher sein Stil wäre- haben oder es handelt sich doch um die Schlacht bei den Pontes longi, die dann aber in unmittelbarer Nähe nachweisbar sein müssten. Satzzeichen wurden erst später erfunden, weshalb eine Tacitusstelle, die als Gegenbeweis herangezogen wird, nicht so eindeutig ist, wie es manchen erscheint. Germanicus gibt an der Ems Befehle für den Rückmarsch. Zuletzt bekommt Caecina den Auftrag, auf dem Rückweg die pontes longi (Knüppeldämme durch ein Moor) instand zu setzen. Danach lägen die gemeinten Knüppeldämme westlich der Ems. Wenn aber der letzte Abschnitt kein Satzglied des vorherigen ist, sondern zum folgenden Kapitel gehört, kann auch ein Ereignis östlich der Ems gemeint sein. (Die Kapitel wurden in der Frühen Neuzeit -wie bei anderen Autoren- willkürlich eingeteilt. Zudem ist auch immer zu beachten, dass die meisten Texte der klassischen Antike von den Autoren nicht geschrieben, sondern diktiert wurden. Letzteres hat hier zwar kaum Bedeutung, zeigt aber sehr gut, dass es eine völlig andere Zeit war und Fehler, die uns heute seltsam erscheinen, schnell entstehen konnten. )

Doch, wie gesagt, hat für mich mittlerweile bei Kalkriese wieder Varus die Nase vorn.
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Riothamus