Das ist so nicht ganz korrekt. Da sie anscheinend zu in Kalkriese gefundenen Fragmenten passt, ist sie -auch unabhängig vom Fundort- auf die Zeit jenes Ereignisses zu datieren.
Und auch wenn gestritten wird, ob es sich um den Ort der Varusschlacht (9 n. Chr.) oder ein Ereignis der Germanicus-Feldzüge (14-16 n. Chr.) handelt -aufgrund der Funde sind frühere oder spätere Ereignisse auszuschließen -, gibt uns das eine Zeitspanne von 7 Jahren. Und das ist für den Zeitpunkt, an dem ein Fund in den Boden kam, schon sehr genau und in jedem Fall früher, als es vor ein paar Jahrzehnten erwartet worden wäre.
Für beide Zuordnungen des Schlachtfelds gibt es gewisse Probleme. Das größte für die Verbindung mit einem entscheidenden Punkt der Varusschlacht ist etwa, dass Germanicus das Schlachtfeld besucht hat und daher auch Funde seines für die Zeit riesigen Heeres hätten gemacht werden müssen. Mitten in feindlichem Gebiet müsste in unmittelbarer Nähe ein Lager zu finden sein - und die Spuren eines weiteren Gefechts, da Arminius einen Teil der Truppen zu einem Angriff provozierte, als er sich auf dem Schlachtfeld befand. Umgekehrt würde eine spätere Münze das Schlachtfeld nicht auf Germanicus datieren, weil er ja dort war und das Schlachtfeld auf einer natürlichen Straße liegt, die viele Händler haben passieren müssen. (Solche Münzfunde sind im Inneren Germaniens auch von andere Engpässen bekannt, die die Handelswege an genau diese Stellen banden.)
Kalkriese liegt am Rande des Gebiets, dass für die Schlacht in Betracht kommt, wenn man die Angaben bei Tacitus ernst nimmt. Das war bis vor einigen Jahren problematisch, weil die Archäologen behaupteten einen Überfall, der innerhalb kurzer Zeit zur Vernichtung der römischen Truppen geführt habe, gefunden zu haben, obwohl die Gegenbeweise offensichtlich waren - dazu später mehr. Denn dann wäre der Weg für Germanicus weit und nicht nah gewesen. (Tacitus: 'haud procul' 'kaum weit, nah') Nach Textanalysen verwendet er den fraglichen Begriff bei aktuell geschilderten Ereignissen höchstens für sechs Wegstunden. Wenn wir bedenken, dass die Schlacht 3 Tage dauerte und die Römer während der Zeit sogar einen Nachtmarsch einlegten, um sichereres Gelände zu erreichen, dann kann kann Germanicus von dem Gebiet der äußersten Brukterer aus, den Beginn des Schlachtfelds erreicht haben und erst später den Ort der endgültigen Katastrophe. Hier darf man natürlich keine fehlerhaften Karten des 19. Jahrhunderts heranziehen, sondern Karten aufgrund antiker Angaben und moderner Archäologie. Die äußersten Brukterer (für Römer, genauer für Tacitus, also vom Rhein aus gesehen, wie wir aus den Analysen der Germanica wissen und nicht von der Donau aus) lebten dort, wo Lippe und Ems parallel fließen. Dies wird durch eine andere Stelle bestätigt: Germanicus befindet sich in einem Lager an der Lippe und hört, dass sowohl der Altar für seinen Onkel Drusus als auch der von ihm auf dem Varus-Schlachtfeld errichtete Grabhügel zerstört worden sind und entscheidet sich trotz der Nähe dagegen, sich darum zu kümmern.
Es gab Vorwürfe gegen Germanicus, dass er sich als Augur nicht mit Bestattungen hätte befassen dürfen. Er ist nun der Held des Tacitus und dieser nimmt ihn in Schutz, weshalb gesagt wird, er habe mit der Nähe übertrieben. Doch hier müssen wir uns in Tacitus versetzen, dessen Mogeleien in der Regel viel eleganter sind und der denn auch den moralischen Vorwurf, Germanicus hätte gegen die altrömische Tugend der religio verstoßen, damit konterte, dass er dabei mehrere andere altrömische Tugenden befolgte: Varus war ein Verwandter des Herrscherhauses und es gehörte daher zur pietas, ihn und die Mitbürger nicht unbestattet zu lassen. Dann war auch die virtus erfüllt. Germanicus ergriff mannhaft die Gelegenheit und erfüllte seine Pflicht trotz gewisser Gefahren. Wenn wir also einfach unterstellen, dass Tacitus mit dem 'haud procul' nur ein klein wenig übertrieb und sich auf den Beginn der Schlacht bezog, würde das passen, da sein Argument ja die naheliegende Gelegenheit betont und er hier nicht einfach die Unwahrheit gesagt haben kann. Die sog. senatorische Geschichtsschreibung, der Tacitus zuzurechnen ist, hat es zwar zur Kunst erhoben, die Geschichte im jeweils bevorzugten Licht erscheinen zu lassen, war dabei aber lange nicht so skrupellos wie ein Donald Trump. (Varus wurde nach heutigem Verständnis erst später die Schuld für die Niederlage zugeschrieben, nachdem seine Nachkommen bei Hochverratsprozessen verurteilt wurden.)
Dann schilderte Tacitus das Schlachtfeld: 2 Befestigungen, die eine ordentlich errichtet, die andere eher improvisiert und 'medio campo' - 'mitten auf dem Feld' die Gefallenen. Er bleibt dabei so unklar, dass nicht klar ist, ob die zweite Befestigung innerhalb der ersten lag, daneben oder mit kurzem Abstand. Und 'campus' kann auch einfach Schlachtfeld bedeuten. Römische Befestigungen schloss man aber bei Kalkriese aus.
Wer also von einer zeitlich kurzen Katastrophe bei Kalkriese spricht, hat ein großes Problem mit Tacitus und auch mit Dio Cassius, der die drei Tage der Schlacht schildert. Dio ist nun mit wesentlich mehr Vorsicht zu genießen als Tacitus, da ihm oft eine schöne Schilderung über die Wahrheit geht, aber auch er hat dabei Grenzen: Wir können ihm den groben Ablauf entnehmen, während wir bei den Details sehr vorsichtig sein müssen. Das ging soweit, dass einige die Geschichtsschreibung, da wo sie ihnen nicht in den Kram passte einfach ohne weiteres zu Fantasy erklärten. Wohlgemerkt, wir sprechen vom 21. und nicht vom frühen 19. Jahrhundert. Auch wissenschaftliche Standards und die Logik wurden nicht mehr beachtet, indem "Wir wissen ja, dass es der Ort der Varusschlacht ist." zum Ausgangspunkt der Argumentation gemacht wurde und Funde, die schwerer zu erklären waren einfach vollkommen anders als üblich erklärt wurden, obwohl Besonderheiten innerhalb des alten Systems gut erklärbar waren.
Die Erklärung für den Befund bei Kalkriese passte also hinten und vorne nicht zu den Schriftquellen -ob man will oder nicht, war es danach nicht das geschilderte Ereignis. Aber diese Erklärung passte auch nicht zum Befund und den Erkenntnissen der Archäologie: Der Wall, den die Germanen angeblich -wegen seiner unregelmäßigen und damit unrömischen Struktur- errichtet haben, war nicht gegen Norden, sondern gegen Süden errichtet. Dann gibt es Hinweise auf verbundene Wunden, die einfachen nicht zur Überfalltheorie passen wollen. Wohlgemerkt: Die Erklärung besagt, dass die Germanen, die das Anlegen von Wällen in römischen Diensten gelernt haben sollen, sollen es dann nicht hinbekommen haben. Das ist nichts weniger als eine rassistische Behauptung, wenn es wirklich ernst gemeint ist. Und schließlich wurden für die Erklärung Bögen als germanische Kriegswaffen erfunden, die alle Handbücher und Monografien ausschließen. Hier werden dann germanische Hilfstruppen, die mit Bögen ausgerüstet waren, erfunden. Die gab es aber nicht. Es handelt sich um eine unzulässige Hilfshypothese.
Klar, solcher Unsinn bringt nicht gerade Vertrauen hervor. Aber dann hat man das gefunden, wonach man meiner Ansicht nach bei Kalkriese schon länger hätte suchen müssen: Eindeutig römische Wälle. Es scheint nun so zu sein, dass der unregelmäßige Wall ihre Südseite bildet. Also ordentliche und improvisierte Befestigungen wie bei Tacitus. Ein Problem weniger. Und alles römisch. Noch ein Problem weniger. Wer Cäsar gelesen hat, weiß auch, wie die Befestigung an der Südseite entstand. Bei Dyrrhachium und in Nordafrika, improvisieren seine Legionen während des Kampfes mit überlegenen Truppen Befestigungen, um überhaupt eine Chance zu haben. Das kann begreiflicherweise kaum je so regelmäßig wie normal geschehen sein. Noch ein Problem gestrichen. Und wer nicht von einem unerwarteten Überfall dort ausgeht, für den kann die Schlacht auch woanders begonnen haben und germanische Kriegsbögen braucht man nicht. (Es wurden im Germanicum an einheimischen Bögen nur Jagdbögen gefunden, lediglich ein geopfertes Exemplar unklarer Herkunft wird als Kriegsbogen angesprochen.) Doch Vorsicht: Auch zu den neu aufgefundenen Befestigungen ist noch nicht alles klar.
Die großen Probleme schwinden also. Und die positiven Argumente nehmen zu, weil einfach keine jüngeren Münzen gefunden werden.
Was ist nun mit Germanicus? Wie ließen sich seine Hinterlassenschaften außer durch Münzen unterscheiden? Das dürfte schwierig werden, da sich in den 6 Jahren naturgemäß kaum etwas veränderte, dass wir so genau datieren können. Ein Marschlager entsprechender Größe in der Umgebung wäre natürlich hilfreich und würde dann auch die Caecina-Schlacht endgültig ausschließen.
Und was kann überhaupt an weiteren positiven Hinweisen auf Varus gefunden werden, wenn wir realistisch bleiben? Es wird von einem Scheiterhaufen berichtet, auf dem die Römer noch versuchten, Varus zu verbrennen. Und Asche ist archäologisch normalerweise nachweisbar, wenn auch die Zuordnung schwierig sein kann.
Auch ein weiteres Rätsel kann nach dem Befund eventuell erklärbar werden. Florus behauptet, dass die Germanen das Lager überfielen, als Varus Gericht hielt. Er kann sich das aus Andeutungen in früheren Quellen irgendwie falsch zusammengereimt haben, wie längst herausgearbeitet ist. Andererseits kann -bei der neuen Interpretation der Befunde- auch Varus tatsächlich noch versucht haben, Verräter oder Legionäre, die aufgeben wollten, zu richten, als die Verteidigung sinnlos wurde. Todesurteile auf dem Schlachtfeld werden in der römischen Geschichte tatsächlich ein paar Mal erwähnt. Aber das ist Spekulation, weil Florus davon irgendwie hätte erfahren müssen und wir nicht wissen, woher er das gehabt haben könnte.
Damit wird es immer wahrscheinlicher, dass es sich bei Kalkriese um den Ort der Varusschlacht handelt. Aber ja, endgültige Beweise sind, wie bei aller Naturwissenschaft schwierig zu finden. Weil es sich um ein aktuelles Ereignis handelte ist es möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Denn eine entzifferbare Grabinschrift bei einem zerstörten tumulus (Grabhügel, wahrscheinlich als kleinerer, auch symbolisch gemeinter Grabhügel zu verstehen) zu finden oder ähnliches, dürfte eine vergebliche Hoffnung sein.
Das Problem, dass der Germanicus-Horizont noch nicht abgrenzbar ist, wird sich dummerweise am Ehesten auf dem Varusschlachtfeld lösen lassen. Dies wäre dann auch wohl die einzige Möglichkeit, jenes Schlachtfeld zu 100% zu identifizieren.
Im Gegensatz zu anderen betrachte ich aber ein Ereignis aus der Zeit der Germanicus-Feldzüge für Kalkriese als möglich, wenn es auch immer unwahrscheinlicher wird. Tacitus könnte z.B. eine für seinen Helden peinliche Niederlage übergangen oder für uns unverständlich angedeutet -was eher sein Stil wäre- haben oder es handelt sich doch um die Schlacht bei den Pontes longi, die dann aber in unmittelbarer Nähe nachweisbar sein müssten. Satzzeichen wurden erst später erfunden, weshalb eine Tacitusstelle, die als Gegenbeweis herangezogen wird, nicht so eindeutig ist, wie es manchen erscheint. Germanicus gibt an der Ems Befehle für den Rückmarsch. Zuletzt bekommt Caecina den Auftrag, auf dem Rückweg die pontes longi (Knüppeldämme durch ein Moor) instand zu setzen. Danach lägen die gemeinten Knüppeldämme westlich der Ems. Wenn aber der letzte Abschnitt kein Satzglied des vorherigen ist, sondern zum folgenden Kapitel gehört, kann auch ein Ereignis östlich der Ems gemeint sein. (Die Kapitel wurden in der Frühen Neuzeit -wie bei anderen Autoren- willkürlich eingeteilt. Zudem ist auch immer zu beachten, dass die meisten Texte der klassischen Antike von den Autoren nicht geschrieben, sondern diktiert wurden. Letzteres hat hier zwar kaum Bedeutung, zeigt aber sehr gut, dass es eine völlig andere Zeit war und Fehler, die uns heute seltsam erscheinen, schnell entstehen konnten. )
Doch, wie gesagt, hat für mich mittlerweile bei Kalkriese wieder Varus die Nase vorn.