Scheinbar kommen wir da erst einmal nicht zusammen, aber ich diskutiere gerne. Ich habe mir oft die Frage gestellt, ob das hier ĂŒberhaupt der richtige Ort dafĂŒr ist, aber letztlich ist das Thema meiner Meinung nach so aktuell, so populĂ€r und so stark mit Vorurteilen oder MissverstĂ€ndnissen behaftet wie kaum ein anderes, so dass eine Debatte immerhin die Gelegenheit bietet, ein paar verschiedene Standpunkte aufzuzeigen.
Ich möchte anmerken, dass meine Positionen nicht \"schulmeisterlich\" zu verstehen sind, ich möchte niemanden belehren oder jemanden meine (natĂŒrlich auch behaftete) Position aufdrĂ€ngen. Im Gegenteil ist es mein Wunsch, Geschichte nicht als Suche nach den richtigen \"Fakten\" zu betrachten, sondern als konstantes Infragestellen von scheinbaren Feststellungen und Sicherheiten. Meist verlĂ€uft die Entwicklung innerhalb der Gesellschaft, vor allem auĂerhalb der UniversitĂ€t aber auch dort, in die genau andere Richtung: Es soll vereinfacht und möglich nachvollziehbar erzĂ€hlt werden. Aber gerade die \"Völkerwanderung\" (Allein zum Begriff und seiner Problematik sind BĂ€nde geschrieben worden) ist eine viel zu einfache Umschreibung fĂŒr eine unglaublich komplexe Epoche ĂŒber die wir, und das mĂŒssen wir uns eingestehen, einfach extrem wenig wissen. Allein die Tatsache, dass es vor dem 6. oder 7. Jahrhundert keine bis kaum Selbstzeugnisse der verschiedenen
gentes (Mit dem Begriff kann ich mich anfreunden) gibt, erschwert jede Aussage ĂŒber die angeblich so kulturell vitalen \"Völker\".
Ich gebe auch gleich zu, dass ich mich eher als AnhĂ€nger einer \"progressiven\" Schule sehe und ziehe die Arbeiten von Walter Pohl (\"Die Germanen\", sehr lesenswert und grundlegend) oder Guy Halsall (Eigentlich sollte sein \"Barbarian Migrations\" das Standardwerk zur Epoche sein, aber er lehrt nun mal nicht in Oxford...) einem Peter Heather allemal vor. Gerade Heather ist fĂŒr mich der Inbegriff der sehr konservativen, stark vom 19. Jahrhundert beeinflussten englischen Historiker, die viele der akademischen Erkenntnisse der letzten 20 Jahre ignorieren oder unterminieren.
Ich möchte, bevor es ausartet (vom Textumfang her, meine ich), nur zu ein paar Punkten Stellung beziehen.
tatsÀchlich um ein ziehendes Volk handelte.
Das \"tatsĂ€chlich\" finde ich schon problematisch. Ăberhaupt sind die Belege fĂŒr den Mitzug von Frauen, Kindern und Greisen problematisch und dĂŒrftig. (Ich kenne auĂer Prokop kaum Stellen) Ein Mitzug von Nicht-Kombattanten war bei HeereszĂŒgen normal, warum muss es gleich das ganze \"Volk\" sein, das da mitmarschiert? Zahlenbelege sind ebenso Mangelware. (Soweit ich weiĂ zwei bis maximal drei Stellen fĂŒr mehr als zwei Jahrhunderte...)
Aber der Eindruck, es habe keine Ethnien gegeben ist genauso falsch.
Das behaupte ich nicht und möchte nicht unter Verdacht geraten, hier lediglich ein \"progressives\" Programm zu verteidigen, welches alle \"ethnische\" leugen möchte, am besten noch als Teil einer \"linken\" Weltverschwörung, wie es neueren Arbeiten oft vorgeworfen wird. (Witzigerweise oft von AnhÀngern der englischen Schule...) Ethnische Gruppen gab es sicherlich. Die Frage ist nur, inwiefern sie sich konstituierten: Als Heeresverband, als Abstammungsgemeinschaft, deren
origo gentis aber erst in einem bestimmten Kontext entstand oder als soziale Gruppe? Die Möglichkeiten sind vielfÀltig und die RealitÀt, beziehungsweise die IdentitÀten der Menschen, waren sicherlich komplexer als eine einfach Zugehörigkeit zu \"Volk\" A oder B. (Aber diese KomplexitÀt hast du ja auch nicht geleugnet!)
Und es muss ganz klar von Ethnien gesprochen werden: Sowohl Selbst- als auch Fremdwahrnehmung sind ĂŒberliefert.
Das stimmt. Aber du sprichst es schon an: Der GroĂteil der Quellen, zumindest die zeitgenössischen, sind Fremdbeschreibungen. Allein das macht ihre Auswertung extrem problematisch. Es handelte sich dabei nicht um \"objektive\" Dokumentationen, sondern stets um Schriften, die eine bestimmte Absicht verfolgten. Daher muss in jedem Fall der Autor, der Entstehungskontext und der jeweilige Zeitraum genauestens betrachtet werden. Selbstwahrnehmung liegt uns in gröĂerem Umfang erst ab dem 6. Jahrhundert vor, was auch Sinn macht, da das Römische Reich bis zu diesem Zeitpunkt seine ideologische und integrative Wirkung verloren hatte und neue IdentitĂ€ten geschaffen werden mussten. Diese waren aber meist Neuenstehungen, die vielfĂ€ltigen Urpsprungs sein konnten und nicht unbedingt auf die Existenz einer frĂŒheren \"Volksgruppe\" zurĂŒck gehen mussten. AuĂerdem bleibt zu fragen, welche sozialen Gruppen sich dieser Bezeichnungen bedienten und ob die gesamte Bevölkerung die gleiche IdentitĂ€t teilte? Ich wage es zu bezweifeln, denn sonst hĂ€tten bestimmte Gruppenbezeichnungen ihre soziale Distinktionskraft verloren, s. die Goten in Italien.
Franken trugen, abgesehen von der Königssippe, ihr Haar nun einmal kurz.
Im Gesicht meist ein Schnurrbart. Die Goten wurden verspottet, weil sie
auch im SĂŒden noch FellmĂ€ntel trugen. Solche Dinge gehen klar aus den
Quellen hervor. Aus den Schriftquellen wohlgemerkt.
Die Quellenbelege wĂŒrden mich interessieren, falls du sie recherchieren kannst. (Und selbst wenn es diese Merkmale gab: Es ist ein groĂer Unterschied ob es sich um ein soziales Unterscheidungsmerkmal, wie beim Suebenknoten, handelte oder um ein ethnisches. Die Unterscheidung kann auf der Grundlage einer solchen Quelle nicht getroffen werden.)
Und die Völkerwanderung als erweiterten Römischen BĂŒrgerkrieg zu
betrachten ist doch sehr schwarz-weiĂmalerisch. DarĂŒber hinaus
diskriminiert es die teilnehmenden Ethnien.
Ich finde es ist gerade andersherum. Es als einen Konflikt zwischen \"Römern\" und \"Barbaren\", oder \"Hunnen\" und \"Goten\" usw. zu beschreiben, ist fĂŒr mich Vereinfachung, teilweise sogar Romantisierung oder eben Schwar-WeiĂ-Malerei. Die Theorie (es ist nur eine Theorie, Guy Halsall vertritt sie beispielweise, aber auch Henning Börm in seiner aktuellen Monographie) des BĂŒrgerkriegs lĂ€sst viel mehr Raum fĂŒr Fluktuation, fĂŒr die Ideen unterschiedlicher Allianzen. Sie lenkt den Blick auch mehr auf das MilitĂ€rische und seine kulturelle Bedeutung fĂŒr die Herausbildung neuer IdentitĂ€ten, statt das Ganze als ein AneinanderstoĂen von \"Billardkugeln\" zu sehen, die schon immer so waren und ihre HomogenitĂ€t stets beibehielten und daher aneinander gerieten. (Ich will die Epoche ĂŒbrigens ĂŒberhaupt nicht verharmlosen! Sie war sicherlich unglaublich gewalttĂ€tig und es gab unzweifelhaft Gewalt gegenĂŒber \"anderen\" Gruppen, aber die Frage ist eher, wie das \"anders\"-Sein bewertet wurde. Sicher nicht nur ethnisch oder kulturell.)
Ein Problem bestand ja gerade darin, dass die Goten und andere sich
weigerten ihre eigene IdentitÀt aufzugeben, wÀhrend sie durchaus bereit
waren, die Strukturen des Reiches anzunehmen und sich auch gerne als
Bestandteil desselben gesehen hÀtten.
Hm, darĂŒber mĂŒsste ich noch einmal nachdenken. Bei Cassiodor habe ich eher den Eindruck, als dass die Goten versuchten, sich innerhalb der römischen Gesellschaft als Gruppe
Ă part zu etablieren, vor allem als militĂ€rische Gruppe mit erhöhtem sozialen Status gegenĂŒber anderen Goten oder Römern, aber dennoch den Bezug zum römischen Staat aufrecht zu erhalten, siehe nur Theoderichs Bildprogramm und Selbstdarstellung.
Edit: Diesen letzten Punkt habe ich tatsĂ€chlich falsch gelesen, bzw. missverstanden. FĂŒr mich ist das kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Goten, als Beispiel, konnten sich einerseits nicht problemlos in die vorhandene römische Gesellschaft integrieren, andererseits wollten sie an ihr Teil haben. Sie wagten daher einen \"Spagat\" zwischen einer eigenstĂ€ndigen \"gotischen\" IdentitĂ€t, welche sich nicht vorrangig ethnisch, sondern ĂŒber die Funktion des Dienstes im Heer definierte und einer \"römischen\" IdentitĂ€t, die ĂŒber das AnknĂŒpfen an das imperiale Erbe funktionierte. Gerade dieses Beispiel zeigt den Pragmatismus auf, der zu dieser Zeit herrschte, wenn es um die Festigung sozialer Position ging. Patrick Amorys Prosographie zum ostgotischen Italien hat des Weiteren aufgezeigt, wie schwer es ist, \"Römer\" von \"Goten\" im 5. und 6. Jahrhundert von einander zu unterscheiden. Siehe auch diesen Artikel:
http://600transformer.blogspot.de/2014/04/the-ostrogothic-military.htmlDas war\'s fĂŒr erste, die Zeit reicht leider nicht fĂŒr den Rest. Ich gehe aber bei Bedarf gerne noch darauf an, gerade zur \"Tracht\" möchte ich noch etwas schreiben.