Was Tuchman versucht hat, ist, das Mittelalter als eine mit uns verwandte Epoche darzustellen. Eben als Spiegel der eigenen Zeit bzw. damals stärker noch der Zeit der Weltkriege. 1978 war diese \"Geschichte von unten\", also die soziologisch inspirierte Alltagsgeschichte noch etwas ziemlich Neues. Man hat sich da viele neue Einsichten versprochen, insbesondere weil man dachte, unter der Oberfläche einer \"Elitenkultur\", eine wahre, authentische, eben: eine \"Volkskultur\" freilegen zu können.
Überholt ist das insofern, als man inzwischen (wieder) deutlich quellenkritischer ist. Dazu kommen - derzeit besonders hippe - kulturgeschichtliche Ansätze. Man fragt also eher nach dem - sozialen, gesellschaftlichen, politischen etc. - Sinn vermeintlich irrationaler Prozesse und Phänomene, wie z.B. der \"Arroganz\" der französischen Ritter. Dieser Sinn kann uns Heutigen durchaus fremd sein. Weil es, anders als Tuchman und ihre Zeitgenossen es gesehen haben, eben doch keine durchgängigen Strukturen und ungebrochenen Verbindungen gab; weil wir nicht allein Dagewesenes stupide reproduzieren und uns zugleich aber auch nicht einfach nur \"weiterentwickelt\" haben.
Wirklich kontrovers diskutiert wird Tuchmans Spiegel daher in der Wissenschaft heute nicht mehr. Es gilt, neben so vielem anderen, aber als Markstein heutiger Forschungsperspektiven. Und es ist einfach ein sehr schön geschriebenes Buch.
Wer sich für ähnlich schöne Literatur mit vergleichbarem Ansatz interessiert, dem kann ich noch empfehlen: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters und Natalie Zemon Davies, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Letzteres übrigens großartig verfilmt (!) mit Gérard Depardieu.
Die Analysen und Wertungen sind, wie bei Tuchman, natürlich mit großer Vorsicht zu genießen und entsprechen nicht dem letzten Stand. Aber als Gedankenfutter und gute Literatur auf jeden Fall sehr lesenswert!