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Autor Thema: Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert  (Gelesen 5560 mal)

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Tankred

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Im Zuge der Vorbereitung unseres Tacticaprojektes habe ich gerade der Ferne Spiegel von Barbara Tuchman gelesen.
http://www.amazon.de/ferne-Spiegel-Das-dramatische-Jahrhundert/dp/3570551334/ref=sr_1_24?ie=UTF8&qid=1311236154&sr=8-24

Ich war wirklich schwer begeistert von dieser Autorin, weil es ihr gelungen ist ein recht umfassendes Gesellschaftsbild zu geben. Man erfährt nicht nur die politischen und kriegerischen Verflechtungen, die das Jahrhundert prägten, sondern auch wirtschaftliche, religiöse und alltägliche Aspekte des Lebens. Dabei schweift sie auch ab und plaudert aus dem Nähkästchen, was meinen Lesespaß immens erhöht hat. Es sind derart viele skurrile Dinge passiert, dass es wirklich schade gewesen wäre, solche Dinge auszulassen.
Als roter Faden dient Enguerrand VII. de Coucy, dessen Lebensweg sie immer wieder aufgreift und erzählt.
Aus meiner Laiensicht scheinen alle Thesen sauber recherchiert und fundiert, das Werk wird auch entsprechend gefeiert. Da das Buch älter ist wollte ich die neu aufgelegte Taschenbuchversion vom Pantheon Verlag (11. Oktober 2010) hier erwähnen, ein schön gebundenes Buch mit hochwertigem Umschlagkarton, wirklich gut für ein Taschenbuch.

Da ich mir sehr sicher bin, dass einige Spezialisten das Werk schon gelesen haben, würde mich interessieren, ob Barbara Tuchmans Werk auch kontrovers diskutiert wird. Ich war z.B. sehr überrascht, dass Ihre Einschätzungen in Sachen Kriegsgeschichte z.B. in Bezug auf Langbögen und die Arroganz der französischen Ritter in Bezug auf Zusammenarbeit mit Gemeinen dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht, was für ein Buch aus den 1970er Jahren erstaunlich ist.

Poliorketes

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #1 am: 21. Juli 2011 - 11:41:13 »

Ich hatte das gestern in der Hand. Wußte nicht, daß es schon so alt ist. De Coucy ist natürlich ein sehr interessanter Aufhänger. Danke für den Tip. ich werde es mir nochmal genauer ansehen.
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Beim Aussteigen stolpert man schon mal über das Dach des nebenan geparkten Autos. Von Parkhäusern reden wir hier lieber nicht. Sagen wir, der Wendekreis ist groß. (Aus einem Test des Ford Ranger)

sharku

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #2 am: 21. Juli 2011 - 12:20:10 »

hatte das buch auch schon mehrmals in der hand gehabt und bis jetzt leider nicht gekauft, werde ich nach deinem tip wohl nachholen!
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opa wuttke

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #3 am: 21. Juli 2011 - 12:42:15 »

Ich habe das Buch im letzten Jahr nochmals gelesen und war auch nach 12 Jahren wieder davon begeistert. In der Zwischenzeit habe ich zu dieser Epoche auch durch die Beschäftigung mit dem Thema Wargaming einen weiteren Blickwinkel erhalten.
Es sind wirklich viele interessante und bemerkenswerte Geschichten und Anekdoten abseits des Lebensweges Enguerrand VII. enthalten. Dabei ziehen sich zwei Dinge durch das Buch wie ein roter Faden: Die von Tankred erwähnte Arroganz der französischen Ritter gegenüber dem gemeinen Volk und jedweder Kriegstaktik sowie die unglaubliche Dreistigkeit, mit der die Krone Jahr um Jahr Steuern eingezogen hatte, deren Verwendung man lediglich im günstigsten Falle noch unter dem Begriff \"Verschwendung\" subsumieren kann (Kommt einem bekannt vor ?...Vielleicht lautet der Titel ja auch nicht von ungefähr: \"Der ferne Spiegel\")
Meine Lieblingsanekdote fürs erste Beispiel: Der Herzog von Anjou macht sich in Begleitung div. Truppen und unter Mitnahme erheblicher finanzieller Mittel (Steuern...logisch!) auf, um die Krone Neapels zu beanspruchen, wobei unterwegs kräftig gefeiert und turniert wird. Dummerweise läßt er sich im Gebirge aus dem Hinterhalt überfallen, weil er mal einfach so durch die Gegend reiste und verliert seinen Schatz...Kommentar dazu: Aufklärung kam bei den französischen Rittern auf dem Schlachtfeld nicht vor, weil Aufklärung kein Bestandteil der Turniere war :rolleyes: ).

Bemerkenswert an diesem Buch, dass auch ich JEDEM, der sich für die Epoche interessiert wärmstens ans Herz lege, ist aber der heutzutage \"leicht antiquiert\" wirkende Stil Tuchmans, der dafür ein umso größeres Vergnügen bereitet (okay: Ich bin altmodisch).

Inwieweit das Buch heute noch kontrovers diskutiert wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Seinerzeit muß es wohl auch im Kontext der (damals) neuen Sicht auf das Mittelalter gesehen worden sein.

Ich schließe mich Tankred an: Unbedingt empfehlenswert !!
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Antipater

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #4 am: 21. Juli 2011 - 13:18:37 »

Was Tuchman versucht hat, ist, das Mittelalter als eine mit uns verwandte Epoche darzustellen. Eben als Spiegel der eigenen Zeit bzw. damals stärker noch der Zeit der Weltkriege. 1978 war diese \"Geschichte von unten\", also die soziologisch inspirierte Alltagsgeschichte noch etwas ziemlich Neues. Man hat sich da viele neue Einsichten versprochen, insbesondere weil man dachte, unter der Oberfläche einer \"Elitenkultur\", eine wahre, authentische, eben: eine \"Volkskultur\" freilegen zu können.
Überholt ist das insofern, als man inzwischen (wieder) deutlich quellenkritischer ist. Dazu kommen - derzeit besonders hippe - kulturgeschichtliche Ansätze. Man fragt also eher nach dem - sozialen, gesellschaftlichen, politischen etc. - Sinn vermeintlich irrationaler Prozesse und Phänomene, wie z.B. der \"Arroganz\" der französischen Ritter. Dieser Sinn kann uns Heutigen durchaus fremd sein. Weil es, anders als Tuchman und ihre Zeitgenossen es gesehen haben, eben doch keine durchgängigen Strukturen und ungebrochenen Verbindungen gab; weil wir nicht allein Dagewesenes stupide reproduzieren und uns zugleich aber auch nicht einfach nur \"weiterentwickelt\" haben.
Wirklich kontrovers diskutiert wird Tuchmans Spiegel daher in der Wissenschaft heute nicht mehr. Es gilt, neben so vielem anderen, aber als Markstein heutiger Forschungsperspektiven. Und es ist einfach ein sehr schön geschriebenes Buch.

Wer sich für ähnlich schöne Literatur mit vergleichbarem Ansatz interessiert, dem kann ich noch empfehlen: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters und Natalie Zemon Davies, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Letzteres übrigens großartig verfilmt (!) mit Gérard Depardieu.
Die Analysen und Wertungen sind, wie bei Tuchman, natürlich mit großer Vorsicht zu genießen und entsprechen nicht dem letzten Stand. Aber als Gedankenfutter und gute Literatur auf jeden Fall sehr lesenswert!
« Letzte Änderung: 01. Januar 1970 - 01:00:00 von 1311330394 »
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Tankred

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #5 am: 26. Juli 2011 - 10:19:39 »

Danke Antipater, ich hatte gehofft, dass Du das Werk einordnest und ein paar Hinweise geben kannst. Sehr interessant finde ich auch die Aspekte in der Entwicklung der soziologischen Sichtweisen, die Du erwähnt hast. Beim Lesen habe ich mich durchaus an einigen Stellen gefragt, ob man das so heute noch machen würde. Was mich wundert ist, dass Du schreibst, dass man heute quellenkritischer ist. Tuchman kam mir da durchaus gewissenhaft vor, da sie auch hie und da insbesondere in den Fußnoten die Quellen erläuterte. Ist das quantitativ heute mehr oder auch qualitativ oder vermutlich beides?

Koppi (thrifles)

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #6 am: 26. Juli 2011 - 11:30:01 »

Quasi in der gleichen Zeit entstanden und auch sehr geeignet einem die Lebensumstände des Mittelalters näher zu bringen, ist das Werk von Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter.
Hatte die beiden Bücher Mitte der 80er fast parallel gelesen, und kann Dir dieses Buch auch empfehlen, wenn Du stärker in die \"\"Sichtweise von unten\" einsteigen willst. Die Tuchmann liest sich allerdings leichter. Logisch: Pulitzer Preisträgerin versus deutscher Mediävist.
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 http://www.dminis.com/thrifles/galleries/

\" ... Artillerieeinheiten der wichtigsten Nationen (Preußen, Österreich, Russland, Großbritannien ...) sind \"gefärbt\". Das Holz der Kanonen ist bei den Preußen z.B. blau, weil das die Farbe der Nation im Spiel ist (grün für Russland usw.). Das alles sieht scheiße und spielzeugmäßig aus...\"
Zitat aus einer Besprechung von Napoleon Total War

Antipater

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #7 am: 26. Juli 2011 - 12:14:28 »

Zitat von: \'Tankred\',index.php?page=Thread&postID=89890#post89890
Danke Antipater, ich hatte gehofft, dass Du das Werk einordnest und ein paar Hinweise geben kannst. Sehr interessant finde ich auch die Aspekte in der Entwicklung der soziologischen Sichtweisen, die Du erwähnt hast. Beim Lesen habe ich mich durchaus an einigen Stellen gefragt, ob man das so heute noch machen würde. Was mich wundert ist, dass Du schreibst, dass man heute quellenkritischer ist. Tuchman kam mir da durchaus gewissenhaft vor, da sie auch hie und da insbesondere in den Fußnoten die Quellen erläuterte. Ist das quantitativ heute mehr oder auch qualitativ oder vermutlich beides?
Quellenkritisch heißt, dass man Quellen nicht rein inhaltlich interpretiert, sondern sich auch mit ihrer Struktur und ihren Bedingungen auseinandersetzt. Also etwa: Wer schrieb an wen gerichtet unter welchen Umständen was für eine Art Text - und warum?
Zu Tuchmans Zeit (oder eigentlich wird das heute auch noch immer wieder gemacht) hat man Quellen vor allem positivistisch gelesen. D.h. mit der Grundannahme, dass alles irgendwie \"wahr\" ist oder sich zumindest in ein Verhältnis zwischen \"wahr\" und \"falsch\" einordnen lässt.
So entstand dann z.B. das Bild von den Rittern, die ihre eigene \"wahre\" Wirklichkeit mit \"falschen\" ritterlichen Idealen zu bemänteln versuchten. Damit verkauft man die Menschen früher eigentlich für dumm: Weil man unterstellt, dass sie solche \"Lügen\" noch nicht durchschauen konnten oder wollten. Das sind Urteile aus Selbstüberschätzung. Und besser sollte man deshalb danach fragen, warum das scheinbar Falsche für wahr gehalten werden konnte. Die entsprechenden Strategien erschließen sich am besten durch, wiederum, Quellenkritik - die, wie gesagt, auch keine neue Erfindung ist.
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Wellington

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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert
« Antwort #8 am: 27. Juli 2011 - 00:00:10 »

Ich finde das Buch auch sehr gut, aber Antipaters Erläuterungen sind schon ne interessante Hintergrundinfo, vielen Dank!
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