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Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert

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Tankred:
Im Zuge der Vorbereitung unseres Tacticaprojektes habe ich gerade der Ferne Spiegel von Barbara Tuchman gelesen.
http://www.amazon.de/ferne-Spiegel-Das-dramatische-Jahrhundert/dp/3570551334/ref=sr_1_24?ie=UTF8&qid=1311236154&sr=8-24

Ich war wirklich schwer begeistert von dieser Autorin, weil es ihr gelungen ist ein recht umfassendes Gesellschaftsbild zu geben. Man erfährt nicht nur die politischen und kriegerischen Verflechtungen, die das Jahrhundert prägten, sondern auch wirtschaftliche, religiöse und alltägliche Aspekte des Lebens. Dabei schweift sie auch ab und plaudert aus dem Nähkästchen, was meinen Lesespaß immens erhöht hat. Es sind derart viele skurrile Dinge passiert, dass es wirklich schade gewesen wäre, solche Dinge auszulassen.
Als roter Faden dient Enguerrand VII. de Coucy, dessen Lebensweg sie immer wieder aufgreift und erzählt.
Aus meiner Laiensicht scheinen alle Thesen sauber recherchiert und fundiert, das Werk wird auch entsprechend gefeiert. Da das Buch älter ist wollte ich die neu aufgelegte Taschenbuchversion vom Pantheon Verlag (11. Oktober 2010) hier erwähnen, ein schön gebundenes Buch mit hochwertigem Umschlagkarton, wirklich gut für ein Taschenbuch.

Da ich mir sehr sicher bin, dass einige Spezialisten das Werk schon gelesen haben, würde mich interessieren, ob Barbara Tuchmans Werk auch kontrovers diskutiert wird. Ich war z.B. sehr überrascht, dass Ihre Einschätzungen in Sachen Kriegsgeschichte z.B. in Bezug auf Langbögen und die Arroganz der französischen Ritter in Bezug auf Zusammenarbeit mit Gemeinen dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht, was für ein Buch aus den 1970er Jahren erstaunlich ist.

Poliorketes:
Ich hatte das gestern in der Hand. Wußte nicht, daß es schon so alt ist. De Coucy ist natürlich ein sehr interessanter Aufhänger. Danke für den Tip. ich werde es mir nochmal genauer ansehen.

sharku:
hatte das buch auch schon mehrmals in der hand gehabt und bis jetzt leider nicht gekauft, werde ich nach deinem tip wohl nachholen!

opa wuttke:
Ich habe das Buch im letzten Jahr nochmals gelesen und war auch nach 12 Jahren wieder davon begeistert. In der Zwischenzeit habe ich zu dieser Epoche auch durch die Beschäftigung mit dem Thema Wargaming einen weiteren Blickwinkel erhalten.
Es sind wirklich viele interessante und bemerkenswerte Geschichten und Anekdoten abseits des Lebensweges Enguerrand VII. enthalten. Dabei ziehen sich zwei Dinge durch das Buch wie ein roter Faden: Die von Tankred erwähnte Arroganz der französischen Ritter gegenüber dem gemeinen Volk und jedweder Kriegstaktik sowie die unglaubliche Dreistigkeit, mit der die Krone Jahr um Jahr Steuern eingezogen hatte, deren Verwendung man lediglich im günstigsten Falle noch unter dem Begriff \"Verschwendung\" subsumieren kann (Kommt einem bekannt vor ?...Vielleicht lautet der Titel ja auch nicht von ungefähr: \"Der ferne Spiegel\")
Meine Lieblingsanekdote fürs erste Beispiel: Der Herzog von Anjou macht sich in Begleitung div. Truppen und unter Mitnahme erheblicher finanzieller Mittel (Steuern...logisch!) auf, um die Krone Neapels zu beanspruchen, wobei unterwegs kräftig gefeiert und turniert wird. Dummerweise läßt er sich im Gebirge aus dem Hinterhalt überfallen, weil er mal einfach so durch die Gegend reiste und verliert seinen Schatz...Kommentar dazu: Aufklärung kam bei den französischen Rittern auf dem Schlachtfeld nicht vor, weil Aufklärung kein Bestandteil der Turniere war :rolleyes: ).

Bemerkenswert an diesem Buch, dass auch ich JEDEM, der sich für die Epoche interessiert wärmstens ans Herz lege, ist aber der heutzutage \"leicht antiquiert\" wirkende Stil Tuchmans, der dafür ein umso größeres Vergnügen bereitet (okay: Ich bin altmodisch).

Inwieweit das Buch heute noch kontrovers diskutiert wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Seinerzeit muß es wohl auch im Kontext der (damals) neuen Sicht auf das Mittelalter gesehen worden sein.

Ich schließe mich Tankred an: Unbedingt empfehlenswert !!

Antipater:
Was Tuchman versucht hat, ist, das Mittelalter als eine mit uns verwandte Epoche darzustellen. Eben als Spiegel der eigenen Zeit bzw. damals stärker noch der Zeit der Weltkriege. 1978 war diese \"Geschichte von unten\", also die soziologisch inspirierte Alltagsgeschichte noch etwas ziemlich Neues. Man hat sich da viele neue Einsichten versprochen, insbesondere weil man dachte, unter der Oberfläche einer \"Elitenkultur\", eine wahre, authentische, eben: eine \"Volkskultur\" freilegen zu können.
Überholt ist das insofern, als man inzwischen (wieder) deutlich quellenkritischer ist. Dazu kommen - derzeit besonders hippe - kulturgeschichtliche Ansätze. Man fragt also eher nach dem - sozialen, gesellschaftlichen, politischen etc. - Sinn vermeintlich irrationaler Prozesse und Phänomene, wie z.B. der \"Arroganz\" der französischen Ritter. Dieser Sinn kann uns Heutigen durchaus fremd sein. Weil es, anders als Tuchman und ihre Zeitgenossen es gesehen haben, eben doch keine durchgängigen Strukturen und ungebrochenen Verbindungen gab; weil wir nicht allein Dagewesenes stupide reproduzieren und uns zugleich aber auch nicht einfach nur \"weiterentwickelt\" haben.
Wirklich kontrovers diskutiert wird Tuchmans Spiegel daher in der Wissenschaft heute nicht mehr. Es gilt, neben so vielem anderen, aber als Markstein heutiger Forschungsperspektiven. Und es ist einfach ein sehr schön geschriebenes Buch.

Wer sich für ähnlich schöne Literatur mit vergleichbarem Ansatz interessiert, dem kann ich noch empfehlen: Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters und Natalie Zemon Davies, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Letzteres übrigens großartig verfilmt (!) mit Gérard Depardieu.
Die Analysen und Wertungen sind, wie bei Tuchman, natürlich mit großer Vorsicht zu genießen und entsprechen nicht dem letzten Stand. Aber als Gedankenfutter und gute Literatur auf jeden Fall sehr lesenswert!

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