Der Pub > An der Bar
Der Einfluss der Forschung auf die heutige Geschichtsschreibung, Existiert er?
Thomas Kluchert:
@ Andre
Ja, tut mir leid. Es juckte mir einfach so in den Fingern, aber ich bin durchaus bewusst, dass solche Aussagen bzw. Nachfragen meist eher kontraproduktiv sind. Aber wer bei welchem Wort auch immer durch die Decke gehen mag, sollte derjenige weiterhin selbst entscheiden dürfen.
Die \"neoliberale\" Marktwirtschaft mit der Wirtschaftspolitik im Dritten Reich zu vergleichen ist jedoch ein starkes Stück. Kennzeichen von totalitären Regimen ist auch die zentrale Kontrolle über die Wirtschaft (nach dem Modell von Friedrich und Brzezinski). Ich wüsste auch nicht, was wirtschaftliche Autarkiebestrebungen, Vier-Jahrespläne und massive Aufrüstung und Kriegsvorbereitung mit Marktwirtschaft zu tun haben. Bei solchen Vergleichen gehe ich tatsächlich durch die Decke!
Es gibt ja tatsächlich auch nicht eine einzige Marktwirtschaft, sondern ziemlich viele Modelle (man denke nur an die Differenzen zwischen Ländern wie Schweden und den USA). Aber Marktwirtschaft und Kapitalismus sind ja auch so unscharfe Begriffe wie Sozialismus und Kommunismus, die jeder für sich anders definiert. Ergebnis ist natürlich, dass man aneinander vorbei redet und andere Dinge meint, obwohl man den selben Begriff verwendet.
AndréM:
--- Zitat ---Die \"neoliberale\" Marktwirtschaft mit der Wirtschaftspolitik im Dritten Reich zu vergleichen ist jedoch ein starkes Stück.
--- Ende Zitat ---
Nicht wirklich, beide zielen auf völlige Ausbeutung zum Wohl weniger ab. Und beide scheinen nicht grad wenig Skrupel zu haben dabei über Leichen zu gehen, nur geschieht das heute teilweise viel subtiler als damals.
Ursus Maior:
Mich wundert bei dem Thema \"2. Weltkrieg\" immer, wie sehr Leute von konkreten, schubladenfertigen Plänen bei Regierungen ausgehen. Die Forschung, aber eigentlich auch das Betrachten des eigenen Lebens, zeigt doch viel mehr, dass viele Dinge ad hoc entschieden werden. Die französische und britische Entscheidung, Polen nicht kriegerisch zu verteidigen, sondern nur mit Krieg zu drohen und nach einer deutschen Invasion den Krieg zu erklären, aber nicht massiv anzugreifen, ist nicht Ausdruck des geplanten Verrates. Es ist Realpolitik und zeugt eher von dem Unvermögen und vielleicht auch Unwillen, der Realität ins Auge zu sehen. Die klassische Geschichtsforschung, über deren Richtigkeit ich kein Urteil abgeben mag, weil es nicht mein Gebiet ist, beurteilt Chamberlain immer als schwachen Ministerpräsidenten. Die Appeasement-Politik war sicherlich ein schwerer Fehler. Aber einen Krieg wollte man eben vermeiden. Keine Macht in Europa war kriegsbereit. Auch Deutschland war nur \"weniger unvorbereitet\". Die Aufrüstung war beileibe nicht beendet.
Der Angriff Deutschlands auf Polen kam nicht überraschend für das anglo-französische Bündnis, aber seine tatsächliche Ausführung war sicherlich ein Schock, musste er doch Krieg bedeuten. Dass die UdSSR sich dem Überfall drei Wochen später anschloss war indes zwar überraschend, aber für die künftige Kriegspolitik der \"Entente\" nicht relevant, weil sich daraus kein Nachteil für sie entwickeln sollte. Im Gegenteil, der folgende Krieg der UdSSR gegen Finnland zeigte die militärische Unzulänglichkeit der Roten Armee in einer Invasion, selbst gegen einen schwachen Feind. Der Sieg der Roten Armee in Polen lieferte ein verzerrtes Bild, da die Polen im Rücken angegriffen wurden, als sie gerade eine massive Gegenoffensive gegen die Wehrmacht starten wollten. In diesem Augenblick ist eine Streitkraft am verwundbarsten.
Für die Entente ergab sich aus dem Angriff der UdSSR zunächst zwar eine ungünstige Situation, die Sowjetunion schien ja mit Hitler zu paktieren, aber für den Sitzkrieg im Westen war das unerheblich. Ein Bündnis mit der UdSSR war ohnehin wenig wahrscheinlich und wurde nicht unwahrscheinlicher. Andererseits steuerte Deutschland gemäß der Ideologie in jedem Fall auf einen Krieg mit der UdSSR hin. Das war ja Parteiprogramm. Für die Zukunft konnte man sich also die Option offen halten, nun da im Osten keine Alliierten mehr zu verteidigen waren, musste die UdSSR zwangsläufig zum möglichen Partner werden. Die Vernichtung Polens und der CSR war also für den Westen Glück im Unglück. Es bedeute schwache Alliierte zu verlieren und einen neuen möglichen Verbündeten zu gewinnen. Dieser Verbündete, die Sowjetunion, wäre vorher nicht als Alliierter in Frage gekommen, weil dies die Polen verprellt hätte.
Realpolitik ist nicht stringent geplant, das verbietet schon der Umstand, dass alle Seiten ja zugleich und auch verdeckt planen. Selbst die besten Geheimdienste liefern nicht ständig ein akkurates Echtzeitbild aller Faktoren. Das wäre auch nicht handhabbar, da ihre Verarbeitungszeit eine Entscheidung verhindern würde. Es gibt meines Wissens keine Hinweise auf ein geplantes Opfern der östlichen Alliierten (Polen und CSR) vor der Münchner Konferenz von 1938. Die Dummheit der deutschen Planung treibt die UdSSR und die Entente zusammen. Moral bei Seite, wäre es klüger gewesen für die deutsche Führung, sich auf Frankreich und Großbritannien zu konzentrieren. Ob es dann zu einem Krieg mi der UdSSR gekommen wäre, weil der Westen darauf gedrängt hätte oder die Sowjetunion alleine eine Front eröffnet hätte, ist völlig hypothetisch und kann nur für \"What if\"-Szenarien im Hobby interessant sein.
J.S.:
--- Zitat ---Die französische und britische Entscheidung, Polen nicht kriegerisch zu verteidigen, sondern nur mit Krieg zu drohen und nach einer deutschen Invasion den Krieg zu erklären, aber nicht massiv anzugreifen, ist nicht Ausdruck des geplanten Verrates.
--- Ende Zitat ---
Einem Land vertraglich auf den Tag genau eine Entlastungsoffensive zu versprechen und darauf zu drängen jegliche Verhandlungsversuche seitens der Deutschen abzuschlagen und DANN zuzusehen wie eben jenes Land verblutet.. das würde ich sehr wohl als vorsätzlichen Verrat auffassen. Polen wurde bewust ans Messer gelíefert; aber hey, das kann ja unter Umständen auch nur Realpolitik sein- sehr klug also von den Allierten, wie du schön ausgeführt hast.
Mehr werde ich zu diesem Thema auch nicht mehr sagen, dreht sich eh nur im Kreis.
Mansfeld:
Hmmm, auf was will diese ganz Diskussion jetzt hinaus?
Ich erwarte von den Alliierten nicht, eine lupenreine Koalition von Engeln gewesen zu sein, brutale und zynische Strategien sind auch bei denen zu finden. Aber keinen Holocaust, keine Judenstern am Revers, etcetera. Jetzt mal ehrlich, wer hier im Forum wäre lieber Bürger eines vom Dritten Reich als eines von den Briten besetzten Landes gewesen?
Jede Ermordung und Demütigung eines wehrlosen Menschen ist ein Verbrechen, egal unter welcher Flagge. Wenn ein Forscher Opfer der Allierten nennt, ist das auch an für sich völlig korrekt, auch diese Menschen sollen betrauert werden. Aber nicht dazu benutzt werden, um die Opfer des NS-Systems verschwinden zu lassen, und gerade das passiert in der öffentlichen Diskussion sehr oft. Dann fällt der Satz \"Da seht ihr, die Alliierten waren genauso schlimm...\", und das ist eben nicht wahr. Wären sie es gewesen, hätten Amerikaner und Briten beim Einmarsch ins Reich sich nicht um die Versorgung der Zivilbevölkerung gekümmert, sondern mal angefangen, zu entgermanisieren. Um etliches schlimmer ist das Wüten der Roten Armee, mir Massenvergewaltigungen und Ermordungen, aber nach 1945 wurde dann auch nicht die Sowjetzone systematisch entvölkert und mit Slawen neu besiedelt. Was hätte das Dritte Reich in der gleichen Situation getan?
Übrigens, ich bin kein Deutscher, der sich seiner Nationalität schämt, und der unter dem Bewußtsein dieses Grauens im Namen des eigenen Volkes jetzt Komplexe mit sich rumschleppt. Zum Teil bin ich sogar ganz stolz darauf, daß wir hier eben nicht den Kopf in den Sand stecken und rumjammern \"Das ist alles gar nicht wahr, und die anderen sind genauso schlimm\", wie ich es z.B. bei der Diskussion um die Mißhandlungen in Abu Ghraib bei so manchen Amerikanern erlebt habe.
All das ist so passiert, kann auch nicht durch noch so unmoralisches Handeln anderer Nationen entschuldigt werden, und verpflichtet mich nicht zum Knierutschen oder Scham, ich habs ja nicht getan. Aber ich bin verpflichtet, so was nicht zu meinen Lebzeiten zuzulassen.
Übrigens gibt es durch ein aktuelles Grassinterview eine ähnliche Diskussion, sehr interessant, wie sich der israelische Botschafter dazu äußert:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1546576/
Außerdem sollte man hier in der Diskussion mal zwischen der Person der Diskutanten und den von ihnen vorgetragenen Standpunkten klar unterscheiden. Letzteres darf man vehementest angreifen, ersteres nicht.
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