Mich wundert bei dem Thema \"2. Weltkrieg\" immer, wie sehr Leute von konkreten, schubladenfertigen Plänen bei Regierungen ausgehen. Die Forschung, aber eigentlich auch das Betrachten des eigenen Lebens, zeigt doch viel mehr, dass viele Dinge ad hoc entschieden werden. Die französische und britische Entscheidung, Polen nicht kriegerisch zu verteidigen, sondern nur mit Krieg zu drohen und nach einer deutschen Invasion den Krieg zu erklären, aber nicht massiv anzugreifen, ist nicht Ausdruck des geplanten Verrates. Es ist Realpolitik und zeugt eher von dem Unvermögen und vielleicht auch Unwillen, der Realität ins Auge zu sehen. Die klassische Geschichtsforschung, über deren Richtigkeit ich kein Urteil abgeben mag, weil es nicht mein Gebiet ist, beurteilt Chamberlain immer als schwachen Ministerpräsidenten. Die Appeasement-Politik war sicherlich ein schwerer Fehler. Aber einen Krieg wollte man eben vermeiden. Keine Macht in Europa war kriegsbereit. Auch Deutschland war nur \"weniger unvorbereitet\". Die Aufrüstung war beileibe nicht beendet.
Der Angriff Deutschlands auf Polen kam nicht überraschend für das anglo-französische Bündnis, aber seine tatsächliche Ausführung war sicherlich ein Schock, musste er doch Krieg bedeuten. Dass die UdSSR sich dem Überfall drei Wochen später anschloss war indes zwar überraschend, aber für die künftige Kriegspolitik der \"Entente\" nicht relevant, weil sich daraus kein Nachteil für sie entwickeln sollte. Im Gegenteil, der folgende Krieg der UdSSR gegen Finnland zeigte die militärische Unzulänglichkeit der Roten Armee in einer Invasion, selbst gegen einen schwachen Feind. Der Sieg der Roten Armee in Polen lieferte ein verzerrtes Bild, da die Polen im Rücken angegriffen wurden, als sie gerade eine massive Gegenoffensive gegen die Wehrmacht starten wollten. In diesem Augenblick ist eine Streitkraft am verwundbarsten.
Für die Entente ergab sich aus dem Angriff der UdSSR zunächst zwar eine ungünstige Situation, die Sowjetunion schien ja mit Hitler zu paktieren, aber für den Sitzkrieg im Westen war das unerheblich. Ein Bündnis mit der UdSSR war ohnehin wenig wahrscheinlich und wurde nicht unwahrscheinlicher. Andererseits steuerte Deutschland gemäß der Ideologie in jedem Fall auf einen Krieg mit der UdSSR hin. Das war ja Parteiprogramm. Für die Zukunft konnte man sich also die Option offen halten, nun da im Osten keine Alliierten mehr zu verteidigen waren, musste die UdSSR zwangsläufig zum möglichen Partner werden. Die Vernichtung Polens und der CSR war also für den Westen Glück im Unglück. Es bedeute schwache Alliierte zu verlieren und einen neuen möglichen Verbündeten zu gewinnen. Dieser Verbündete, die Sowjetunion, wäre vorher nicht als Alliierter in Frage gekommen, weil dies die Polen verprellt hätte.
Realpolitik ist nicht stringent geplant, das verbietet schon der Umstand, dass alle Seiten ja zugleich und auch verdeckt planen. Selbst die besten Geheimdienste liefern nicht ständig ein akkurates Echtzeitbild aller Faktoren. Das wäre auch nicht handhabbar, da ihre Verarbeitungszeit eine Entscheidung verhindern würde. Es gibt meines Wissens keine Hinweise auf ein geplantes Opfern der östlichen Alliierten (Polen und CSR) vor der Münchner Konferenz von 1938. Die Dummheit der deutschen Planung treibt die UdSSR und die Entente zusammen. Moral bei Seite, wäre es klüger gewesen für die deutsche Führung, sich auf Frankreich und Großbritannien zu konzentrieren. Ob es dann zu einem Krieg mi der UdSSR gekommen wäre, weil der Westen darauf gedrängt hätte oder die Sowjetunion alleine eine Front eröffnet hätte, ist völlig hypothetisch und kann nur für \"What if\"-Szenarien im Hobby interessant sein.